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Ausgabe Juni 2025
ForuM-Bulletin #9
Inhaltswarnung: In diesem Newsletter geht es um die Aufarbeitung sexualisierter Gewalthandlungen. Einige Schilderungen können belastend wirken. Informationen zu Hilfsangeboten finden Sie hier.
Eine Surferin an der Leinewelle in Hannover rettet auf ihrem Brett die Papierschiffchen, die nach dem Kirchentagsgottesdienst »Gott wo bist du? Glaube nach Gewalterfahrung« der Leine anvertraut wurden, vor dem Strudel (Bericht unten). Foto: Rebekka Neander
Liebe Leserin, lieber Leser,

nach der Verabschiedung der Anerkennungsrichtlinie und der Einrichtung der Unabhängigen Regionalen Aufarbeitungskommissionen stehen nun weitere Punkte des ForuM-Maßnahmenplans auf den To-do-Listen des Beteiligungsforums Sexualisierte Gewalt und der Fachstellen. Wir berichten in dieser Ausgabe über den neusten Diskussionsstand, blicken auf den Kirchentag zurück und fragen bei den Katholiken nach, was wir von ihnen lernen können.

Arbeit in Kleingruppen und im Plenum wechseln sich bei den Sitzungen des Beteiligungsforums ab. Foto: Frank Hofmann
Sitzung des Beteiligungsforums
Auf dem Weg zu einheitlichen Standards

Die zügige Weiterarbeit am ForuM-Maßnahmenplan, den die EKD-Synode im November beschlossen hat, stand im Zentrum der jüngsten Sitzung des Beteiligungsforums Sexualisierte Gewalt in der EKD (BeFo). Bei dem zweitägigen Treffen in Berlin ging es unter anderem um die Einrichtung einer unabhängigen Ombudsstelle. Die Ausgestaltung dieser Stelle, ihrer Zuständigkeiten und Kompetenzen soll so erfolgen, dass damit keine Doppelstrukturen geschaffen werden.

Zusammen mit der Bildungsabteilung der EKD wurde über Standards für Prävention in der Aus-, Fort- und Weiterbildung in den kirchlichen und diakonischen Berufsfeldern beraten. Dabei geht es nicht nur um die praktische Handlungskompetenz, sondern auch um die Reflexionsfähigkeit von Rollen und Machtstrukturen sowie um die strukturellen und organisationstheoretischen Möglichkeiten, sexualisierte Gewalt zu verhindern. In diesem Rahmen werden unter anderem Schutzkonzepte und Schulungsverpflichtungen für die 19 theologischen Fakultäten und die 52 Institute für die Ausbildung von Religionslehrer*innen angestrebt. Da diese überwiegend in staatlicher Hand sind, ist eine gute Abstimmung mit Blick auf Schutzkonzepte und Präventionsmaßnahmen wichtig, die gegebenenfalls bereits bestehen.

Um künftig bundesweit vergleichbar und transparenter kommunizieren zu können, sollen zentrale Zahlen und Fakten des Feldes anders und neu erhoben werden. Dem BeFo lag dafür ein grundsätzlicher Verfahrensvorschlag vor, der im Juni in die Kirchenkonferenz und den Rat der EKD eingebracht werden soll. Dieser umfasst unter anderem die Anzahl der beschuldigten und der betroffenen Personen, die den Landeskirchen und Diakonieverbänden vorliegen.

Mit kleineren Änderungsvorschlägen, aber im Ganzen zustimmend diskutierte das BeFo ein Papier zum »Gottesdienstlichen Handeln und Sprechen nach der ForuM-Studie«, das von einer AG der Liturgischen Konferenz mit Betroffenen erarbeitet wurde. Das achtseitige Dokument listet keine Regeln auf, sondern stellt gezielte Fragen, mit denen Gestaltende die Inszenierung, die Liturgie und die Inhalte ihres geplanten Gottesdienstes betroffenensensibel überprüfen können. Die Veröffentlichung soll zeitnah erfolgen.

Mit Blick auf die Tagung der EKD-Synode im November 2025 diskutierte das BeFo auch die Beantwortung der Eingaben von Betroffenen auf der letzten Synode sowie Ideen für die nächste Tagung. Im November 2024 hatte Julia von Weiler als Anwältin des Publikums die Anfragen von betroffenen Menschen gesammelt vorgetragen (zum Video). Auf der Tagung 2025 wird das Thema sexualisierte Gewalt mehrfach auf der Tagesordnung stehen. Neben dem Sachstandsbericht zum ForuM-Maßnahmenplan wird sich auch der inhaltliche Schwerpunkt »Kirche und Macht« unter anderem diesem Aspekt widmen.

Nach dem Kirchentag in Hannover (siehe Bericht unten) zogen die BeFo-Mitglieder eine überwiegend positive Bilanz. Das Thema sexualisierte Gewalt sei deutlich präsenter gewesen als noch vor zwei Jahren in Nürnberg. Auch die Anwält*innen des Publikums hätten bei den Veranstaltungen gute Arbeit geleistet. Kritisiert wurde aber, dass sich rund um das Thema zu wenige leitende Geistliche aktiv positioniert hätten oder bei Veranstaltungen ansprechbar waren.

Nicole Sacha, Oberstudienrätin in Schöningen (Kreis Helmstedt), setzt sich seit fast sieben Jahren für die Belange von sexualisierter Gewalt betroffener Menschen in der katholischen Kirche ein. Foto: UAK Nord
Interview Nicole Sacha, UAK Nord
»Die Startblöcke gerade erst verlassen«

Was können die neuen Unabhängigen Aufarbeitungskommissionen (URAKs) von den katholischen Kolleginnen und Kollegen lernen? Fragen an Nicole Sacha, als Betroffenenvertreterin Mitglied der katholischen Unabhängigen Aufarbeitungskommission (UAK) Nord für das Erzbistum Hamburg und die Bistümer Hildesheim und Osnabrück

Frau Sacha, Sie haben den URAKs der EKD und der Diakonie zwei Jahre Erfahrung voraus. Was bewerten Sie rückblickend als Erfolge Ihrer Arbeit?

Als grundlegenden Erfolg sehe ich, dass schon durch die Existenz der Gremien UAK Nord und Betroffenenrat Nord die Bistumsleitungen wissen, dass sie in ihrem Handeln von unabhängiger Seite und auch mit dem Blick von Betroffenen kritisch begleitet werden und in unseren halbjährlichen Treffen ganz persönlich Rede und Antwort stehen müssen. Als konkrete Erfolge bewerte ich zum einen die intensive Arbeit in den drei Arbeitsgruppen der UAK Nord (»Abfragekartei zu Tätern/Tatverdächtigen in den Bistümern«, »Prüfung der Maßnahmen zu Prävention und Intervention« sowie »Neue Hildesheimer Studie«) und zum anderen die Benennung von Anhörungsbeauftragten, denen die (Co-)Betroffenen – zum Teil hochbetagt – ihr Erleben und ihre Erfahrungen umfassend und unabhängig von einem Antrag mitteilen können. Im Zuge der Abfragekartei kam es zur Klage der UAK vor dem Interdiözesanen Datenschutzgericht – Hintergrund ist hier, dass die UAK nähere Informationen zu den Zahlen und Fakten bisher bekannter Beschuldigter, insbesondere im Erzbistum Hamburg, benötigt. Hier scheut die UAK auch den Konflikt nicht. Die neue Studie in Hildesheim wurde hingegen nun sehr gut aufs Gleis gesetzt. Dass die Arbeitsgruppen intern von je einem anderen Gruppenvertreter (Länder, Betroffene, Bistümer) geleitet werden, spricht für die gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit in der UAK Nord. Die geschieht auf Augenhöhe.

In einem Interview sprachen Sie davon, dass es anfangs »schon auch mal Irrwege« gab. Was meinten Sie damit?

Das Feld, das wir betreten, ist einerseits wohl so alt wie die Kirche selbst, andererseits ist es ein Stück Neuland – auch 15 Jahre, nachdem der Fall Canisius an die Öffentlichkeit kam und eine Lawine auslöste. Es muss um Vieles gerungen werden, schon um die Begriffe. Wann ist wer Täter, Tatverdächtiger, Beschuldigter? Legt man hier rein juristische Maßstäbe an, dann wären es fast alle Tatverdächtige, da kaum jemand verurteilt wurde – oder verwendet man »Täter« als Zeichen eines »Ich glaube den Betroffenen«, auch wenn das formaljuristisch falsch ist?
Auch gibt es für mich »die Betroffenen« als einheitliche Gruppe nicht mehr – die Bedarfe und Bedürfnisse, die Interessenlagen und Ziele sind sehr heterogen. Und jede und jeder Betroffene hat das Recht, in der je individuellen Lage gesehen und ernst genommen zu werden. Aber es gibt auch ganz konkrete Irrwege oder, freundlicher formuliert, Anlaufschwierigkeiten, wenn ein Bistum mal wieder vergisst, die Gremien mit einzubeziehen oder sie zumindest über Schritte zu informieren. In zweien der drei Bistümer passiert das mittlerweile aber nur noch selten.

Ist die Kontaktaufnahme für betroffene Menschen seit der Einrichtung unabhängiger Aufarbeitungskommissionen merklich leichter geworden?

Die Kontaktaufnahme läuft eher selten über die UAK Nord, sondern vielmehr über den Betroffenenrat Nord. Gerade nach Berichterstattung über eine Studienveröffentlichung (wie in Osnabrück) oder einen Studienstart (wie jetzt in Hildesheim), in der UAK und Rat benannt werden, wenden sich vermehrt Betroffene an den Rat, da sie dort auf Mit-Betroffene treffen und nicht auf »so hohe Herren«, wie letztens ein Betroffener meinte. Da UAK und Rat aber beides Gremien sind, die aus der Vereinbarung zwischen UBSKM und Deutscher Bischofskonferenz hervorgingen, lautet die Antwort auf die Frage »Ja«. Allerdings hat jedes Bistum auch unabhängige Ansprechpersonen, die sich insbesondere um die Antragstellung im Rahmen der Anerkennung des Leids kümmern – der Erstkontakt findet zumeist über diese statt. Aber es gibt auch die, die den Erstkontakt über uns suchen.

Das Ziel der Aufarbeitungskommissionen ist es ja, sich irgendwann überflüssig zu machen. Wann, glauben Sie, wird das in der katholischen Kirche der Fall sein?

Ich hoffe, bald – und fürchte, nie. Die katholische Kirche hat, und hier zitiere ich den leider verstorbenen Professor Thomas Großbölting, was die Aufarbeitung angeht, die Startblöcke gerade erst verlassen. Viele Verbrechen wurden benannt, ja. Bei etlichen gab es auch Aufklärung, was den Kindern und Jugendlichen von wem Grauenvolles angetan wurde – an wirklicher Aufarbeitung mangelt es aber vielfach. Da geht es um Fragen der Mitwisser, Bystander, Wegschauer, der Verantwortlichen und der systemischen Bedingungen. Aber es geht auch um Fragen der Folgen für die Betroffenen, ihre Angehörigen und Freunde – und da sind wir im jeweiligen Hier und Jetzt. Überflüssig wird dieses Hinsehen wohl nie sein. Und Taten wird es immer wieder geben, auch bei bester Prävention. Die neuen Möglichkeiten von Missbrauch in Zeiten fortschreitender Digitalisierung sind zumeist noch gar nicht im Blick.

Gibt es noch einen Tipp, den Sie den URAKs oder auch den kirchlich Handelnden in der EKD auf den Weg geben möchten?

Ja, definitiv. Klären Sie als URAKs mit den kirchlich Handelnden in ihren jeweiligen Landeskirchen oder mit der EKD im Ganzen ab, wer sie überhaupt sind – konkret: Sind Sie bei aller Unabhängigkeit eine Art »interne Revision«, die auch ein genuines Recht auf Einblicke in Strukturen, Daten und Akten hat, oder sind Sie so außenstehend, dass man Ihnen diese Einblicke mit Verweis auf den allgemeinen und den kirchlichen Datenschutz verwehren kann? Uns hätte diese Klärung im Vorfeld viel Reibungsenergie und Zeit erspart. Zwei weitere wichtige Fragen im Vorfeld wären: Haben Sie ein Recht auf zeitnahe und zielgerichtete Antworten seitens der Kirche und können Sie selbst an Betroffene herantreten, um »unvermittelte« Berichte aus erster Hand bekommen zu können?
Ansonsten nur: Bleiben Sie hartnäckig in der Sache und passen Sie gut auf sich auf – die Berichte, die Sie vermutlich lesen werden, können sehr belastend sein.

»Ich sehe keinen Mehrwert darin, Machtasymmetrien in einem geschlossenen Rahmen zu reproduzieren.«

Nancy Janz zu Gesprächsangeboten kirchlich Handelnder
in nicht-öffentlichen Räumen
Bibelarbeit zu Markus 7,24-30 im Dialog zwischen Nancy Janz und Dorothee Wüst in der Marktkirche auf dem Kirchentag in Hannover. Foto: Frank Hofmann
Kirchentag in Hannover
Der lernende Heiland
Die zahlreichen Angebote des Kirchentags in Hannover zum Thema sexualisierte Gewalt trafen ganz überwiegend auf starkes Interesse. Eine dialogische Bibelarbeit zu Markus 7,24-30 von den BeFo-Sprecherinnen Nancy Janz und Dorothee Wüst stellte Jesus als lernenden Heiland vor, der selbst erst seine Ohren öffnen muss, bevor er andere Taube heilt. Beim Podium »Die Macht der Worte« betonte die Psychotherapeutin Friedegunde Bölt, dass mit dem Reden über sexualisierte Gewalt begonnen wird, die Macht der Täter zu brechen. Das Aussprechen durchkreuze die Strategie, die Tat als »Geheimnis« zu deklarieren, und könne dafür sorgen, dass Scham und Schuld(gefühl) die Seite wechselten. BeFo-Mitglied Matthias Schwarz unterschied den ersten Schritt, in einem geschützten Raum über das Erlebte zu sprechen, vom zweiten Schritt, damit an die Öffentlichkeit zu gehen. Dabei drohe heftiger Gegenwind, etwa der Vorwurf »Nestbeschmutzer«. Dem könne man nur entgegnen: »Das Nest ist schon schmutzig!«

Besonders bewegend war der Gottesdienst in der Marktkirche zum Thema »Gott – wo bist du? Glaube nach Gewalterfahrungen«, der gemeinsam mit betroffenen Menschen organisiert wurde. Zu Wort kamen auch die Theologin Sarah Vecera, die sich »beim Predigtschreiben immer die Vulnerabelsten« vorstellt, und der sächsische Landesbischof Tobias Bilz: »Die Unbegreiflichkeit Gottes zeigt sich für mich auch darin, dass manche Betroffene ihre Gottesgewissheit bewahren.«

Auf dem Hauptpodium zum Thema mahnte BeFo-Sprecher Detlev Zander an, dass auf regionaler Ebene und in einzelnen Institutionen noch mehr passieren müsse. »Viele sind bibelfest, aber viel zu wenige ForuM-Studien-fest.« Auch störe ihn, dass die Kirche allzu schnell ins Theologisieren komme. Dabei müsse man auch an die Betroffenen denken, die nicht in der Kirche sind.

Die Initiative »Vertuschung beenden« mit Katharina Kracht und Jakob Feisthauer sendete von der Podcastbühne live ein Gespräch mit dem Koordinator der ForuM-Studie, Martin Wazlawik, der noch einmal die empirische Basis der Studie erklärte und der EKD verschiedene Formate der Betroffenenbeteiligung empfahl.

Die Fachebene war auf dem Markt der Möglichkeiten mit dem Stand »Gegen sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche und Diakonie« vertreten. Dieser wurde zusammen von den Fachstellen der EKD, der Diakonie Deutschland, der Landeskirche Hannovers, des Landesverbands in Niedersachen sowie der Fachstelle der Evangelischen Kirche in Kurhessen und Nassau organisiert. Auf dem Stand konnte man sich über Materialien und Gespräche zur Arbeit gegen sexualisierte Gewalt in der Breite der Landeskirchen und Landesverbände der Diakonie informieren.

Drei große Leinwände luden die Messebesucher*innen ein, eigene Gedanken zum Thema zu hinterlassen. Und auf der EKD-Bühne wurden Gedichte und Gemälde von Betroffenen präsentiert und musikalisch begleitet.

Rege genutzt wurden die drei Leinwände auf dem Kirchentagsstand »Gegen sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche und Diakonie«, auf denen täglich eine andere Frage zu spontanen Antworten einlud. Fotos: Frank Hofmann
Pressekonferenz zur Vorstellung der Siegen-Studie: Stephan Mehl und Christian Knake von Deloitte, Ulf Schlüter, Theologischer Vizepräsident der EKvW, und Superintendentin Kerstin Grünert. Foto: Kirchenkreis Siegen-Wittgenstein
Aus den Landeskirchen
»Versagen gegenüber Betroffenen und der Öffentlichkeit«

Zu den Missbrauchsvorwürfen im Kirchenkreis Siegen hat die von der Evangelischen Kirche von Westfalen (EKvW) beauftragte Prüfungsgesellschaft Deloitte Anfang Mai einen Untersuchungsbericht vorgelegt. Sieben männliche Betroffene beschuldigen einen ehemaligen privatrechtlich angestellten Kreiskantor, im Zeitraum von 1980 bis zu 2022 gegen ihren Willen sexuelle Kontakte angebahnt und aufgenommen zu haben. Weil die Frage der Minderjährigkeit nicht abschließend geklärt werden konnte, hatte die Staatsanwaltschaft Siegen die Ermittlungen vor einem Jahr eingestellt. Deloitte konnte nun nach Durchsicht von über 250 Dokumenten und nach 52 Gesprächen mit Betroffenen und Beteiligten zeigen, dass bereits in den 1990er Jahren den Dienstvorgesetzen des Beschuldigten entsprechende Vorwürfe bekannt waren. Erst im März 2023 hat der Kirchenkreis ein Interventionsteam eingerichtet, Betretungsverbote ausgesprochen und das Gespräch mit den Betroffenen geführt. Unter der Verantwortung von Annette Kurschus, damals Präses und Ratsvorsitzende der EKD, wurde eine »passive Kommunikationsstrategie« verfolgt, die Ulf Schlüter, Theologischer Vizepräsident der EKvW, nun als »falsch« kritisierte. Zugleich bekannte er, dass es ein »Versagen der evangelischen Kirche« darstelle, wenn »der Beschuldigte im Kontext seines Dienstes in der evangelischen Kirche über Jahrzehnte hinweg Grenzen der sexuellen Selbstbestimmung ihm anvertrauter Schüler verletzen konnte«. Die Betroffenen hätten die Möglichkeit, so Schlüter weiter, Anerkennungsleistungen zu beantragen und ergänzende Hilfeleistungen in Anspruch zu nehmen.

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Sieben von neun Unabhängigen Regionalen Aufarbeitungskommissionen (URAKs) haben im März 2025 ihre Arbeit aufgenommen. Im April 2025 konnte auch die URAK »Sachsen« vollständig besetzt werden und den Betrieb starten. Im Verbund »Konföderation und Bremen« ist weiterhin die Benennung von externen Expert*innen ausstehend.

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Die Rheinische Landeskirche, der Evangelische Kirchenkreis Düsseldorf und die Vennhauser Markusgemeinde haben die ForuM-Forscherin Johanna Sigl von der Hochschule Rhein-Main mit der Aufarbeitung der Vorwürfe gegen einen inzwischen verstorbenen Pfarrer beauftragt. Er soll nach Angaben von zwei betroffenen Männern zwischen den 1970er und 1990er Jahren sexualisierte Gewalt ausgeübt haben.

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Von sexualisierter Gewalt betroffene Personen sollen künftig direkt vor der Synode der Landeskirche Hannovers sprechen können. Außerdem soll es in Zukunft eine gewählte Betroffenen-Vertretung für die gesamte Landeskirche geben. Das beschlossen die Synodalen im Rahmen des Themenschwerpunktes sexualisierte Gewalt auf ihrer 12. Tagung. Mit diesen Entscheidungen, die der Rechtsausschuss und der Ausschuss für kirchliche Mitarbeit vorbereitet hatten, reagiert das Kirchenparlament auf die Kritik betroffener Personen, die diese bereits im Nachgang der Frühjahrstagung im vergangenen Jahr im Kloster Loccum vorgebracht hatten.

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Am 4. Juni beginnt vor dem Bielefelder Amtsgericht der Prozess gegen einen ehemaligen Jugendbetreuer der Dietrich-Bonhoeffer-Gemeinde, dem Missbrauch Schutzbefohlener, sexueller Missbrauch von Jugendlichen und der Besitz jugendpornografischer Dateien vorgeworfen wird. Der Fall wurde 2021 bekannt, die evangelische Kirche Bielefeld erstattete Strafanzeige und stellte den seit mehr als 20 Jahren beschäftigten Mitarbeiter frei. Sprecher der Betroffeneninitiative kritisieren, dass sich die vom Kirchenkreis versprochene wissenschaftliche Aufarbeitung der Vorkommnisse verzögert habe, weil der Auftrag an das zunächst ausgewählte Institut aus nicht nachvollziehbaren Gründen zurückgezogen wurde. Kirchensprecher Tobias Nehls spricht von einer »Fehleinschätzung von Seiten des Superintendenten« Christian Bald, »die korrigiert und geklärt werden konnte«.

KURZ NOTIERT
Der Deutsche Caritasverband, die Diakonie
Deutschland, das Deutsche Rote Kreuz und die Deutsche Rentenversicherung haben den ersten bundesweiten Forschungsbericht zu ehemaligen Kinderkurheimen veröffentlicht, der auch auf Fälle sexualisierter Gewalt eingeht (PDF-Download hier, zum entsprechenden Kapitel siehe Seite 309 bis 313).
Kultur- und Medientipps
Bild aus dem Projekt »unfassbar« der Fotokünstlerin Julia Krahn. Copyright: Pajo One Communication
Im Rahmen der aktuellen Ausstellung »FrauenBilder. Julia Krahn im Dialog«, die noch bis zum 17. August 2025 im Landesmuseum Hannover zu sehen ist, realisierte die Künstlerin Julia Krahn während des Kirchentages das Projekt »unfassbar«. Dazu hatte sie Frauen, die sexualisierte Gewalt erfahren haben, zu einem Portrait-Shooting eingeladen. Neun Frauen nahmen teil. Die Künstlerin, die vor zwei Jahren in Berlin durch ihre Portraits von Ukrainerinnen Aufsehen erregte, erläutert ihre Arbeit: »Ich versuche festzuhalten, was das Auge nicht sieht, um es im Betrachter widerzuspiegeln. Es geht weniger um das Bild, als um die Erfahrung geteilter Gefühle.« Anna-Sophie, die in Hannover an der Produktion teilnahm (siehe Bild oben), beschreibt ihre Motivation und ihre Gefühle:

»Für mich selber ist es absolut fassbar, ich habe es ja erlebt, ich war dabei, ich
habe es überlebt. Erzähle ich aber davon, merke ich, wie unfassbar es für die
Anderen ist. ›Ach, dass dir so etwas passiert ist … Das hätte ich niemals gedacht.‹
›Man merkt es dir gar nicht an!‹ Ja, Gott sei Dank, denke ich mir dann immer.
Das wäre ja noch schlimmer. Das Schlimmste, was man mir antun kann, wenn ich
davon erzähle, ist, mich zu bemitleiden. Ich will kein Mitleid, ich will ernst
genommen werden.
Ich will, dass Menschen begreifen, dass es passiert. Und dass die, die die Gewalt
ausüben, keine Monster sind. Sie sind Väter, Nachbarn, Lehrer, vertraute Bezugspersonen. Wenn wir sie verteufeln, entmenschlichen wir diese Taten. Dadurch wird das alles aber noch unfassbarer und wird weiter weggeschoben. Es passiert. Täglich. Im Verborgenen und doch mitten in unseren Reihen. Häufig wird dafür gesorgt, dass die Betroffenen anonym bleiben. Aus Schutz. Und in großen Teilen verstehe ich das auch.
Aber ein Teil von mir denkt auch, dass wir Betroffenen dadurch unsichtbar gemacht werden. Wir werden wieder zum Objekt. Mit diesem Projekt möchte ich trotz allem inneren Widerstand sichtbar werden. Das Unfassbare soll fassbar, das Unbegreifliche soll greifbar werden. Denn auch ich bin nicht die monströse Tat, die mir passiert ist. Ich bin Frau, Freundin, Ehefrau und Tante.
›Es wird Zeit, dass die Scham die Seite wechselt‹ (Gisèle Pelicot).«

Weitere Bilder des Projektes sind auf der Website von Julia Krahn zu sehen.
Thorsten Dietz/Tobias Faix: Wege zur Liebe – eine Sexualethik zum Selberdenken. Neukirchener Verlag 2025. 428 Seiten. 30 Euro

Schädliche Frontstellung in der Sexualmoral

Versuch einer mehr beschreibenden als normativen christlichen Sexualethik

Eine neue protestantische Sexualethik wurde nach der ForuM-Studie verschiedentlich gefordert. Der hier vorgestellte Band der Theologen Tobias Faix und Thorsten Dietz ist der Versuch, die gegenwärtigen herausfordernden sexualethischen Fragen mit der Orientierung an der Bibel zu verbinden. Der große Vorzug des Buches ist die thematische Breite, mit der nahezu alle Formen und Konflikte der Sexualität behandelt werden. Zur sexualisierten Gewalt in der Kirche wird ein eigenes Kapitel geboten, in dem mit dem gelegentlich zu hörenden Vorwurf aufgeräumt wird, die Missbrauchsfälle seien eine Folge liberaler Sexualmoral nach 1968. Im Gegenteil, so die Autoren, habe erst die Betonung sexueller Selbstbestimmung »sexualisierte Gewalt als schweres Unrecht sichtbar« gemacht. Insgesamt habe die Frontstellung zwischen konservativen und progressiven Lagern dazu geführt, dass nur die Risiken der anderen Seite wahrgenommen wurden. Zunehmend werde klarer, »dass es Freiheit nie gibt ohne das Ringen um solche Normen und Werte, die Freiheit ermöglichen, ohne in Beliebigkeit oder Beschädigung von vulnerablen Gruppen auszuschlagen«. Nicht alle aufgeworfenen Fragen werden beantwortet – ganz im Sinn einer »Ethik zum Selberdenken«.

Helga Dill, Christiane Lange, Malte Täubrich (Hg.):Verratenes Vertrauen Analysen zum Umgang mit sexualisierter Gewalt in der Evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland. Weinheim: Beltz 2025. E-Book kostenlos

Vertiefungsband zur ForuM-Studie

Erweiterte Beiträge zum Teilprojekt C als Open Access-Publikation verfügbar
Das Erleben Betroffener in den Mittelpunkt zu stellen, war das Ziel des Teilprojekts C der im Januar 2024 vorgestellten ForuM-Studie. Nun ist dazu ein Vertiefungsband erscheinen, der das Ausmaß erlittener Gewalt, die Bedingungen und Umstände ihres Auftretens und die biografischen Folgen für die Betroffenen ausführlicher darstellt, als dies im Abschlussband der Studie möglich war. Datenbasis dafür sind 47 qualitative Einzelinterviews mit Betroffenen und 25 Interviews mit Verantwortungsträger*innen aus EKD oder Diakonie. Erfreulicherweise wird auch dieser Band kostenlos als Pdf-Datei angeboten, während das broschierte Buch für 58 Euro erhältlich ist.

 
 

Haben Sie Fragen zum Aufarbeitungsprozess in den evangelischen Kirchen oder der Diakonie, suchen Sie Informationen? Wir freuen uns über Ihre Mail mit Anregungen, Anfragen und Kritik an praevention@ekd.de. Wenn Sie das ForuM-Bulletin interessant fanden, können Sie es über diesen Link weiterempfehlen. Das nächste ForuM-Bulletin erscheint im September 2025.


Bis dahin, herzlich
Ihr ForuM-Bulletin-Team

Anna-Lena Franke, Frank Hofmann.
Foto: Dörte Rautmann