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Ausgabe Juli/August 2024
ForuM-Bulletin #4
Inhaltswarnung: In diesem Newsletter geht es um die Aufarbeitung sexualisierter Gewalthandlungen. Einige Schilderungen können belastend wirken. Informationen zu Hilfsangeboten finden Sie hier.
Eine Fachtagung am 8. Juli an der Ruhr-Universität Bochum setzte interdisziplinär bei den Forschungsaufgaben an, die die ForuM-Studie herausgearbeitet hatte. Zu den Referierenden gehörten: Traugott Jähnichen, Sigrid Reihs, Johannes Rudolph, Ute Gause, Gerhard Schreiber (von links). Zum Bericht: siehe unten. Foto: Frank Hofmann
Liebe Leserin, lieber Leser,

auf ihren Juni-Sitzungen beschäftigten sich Kirchenkonferenz und Rat intensiv mit der voranschreitenden Arbeit des Beteiligungsforums (BeFo) – in unserem ersten Beitrag finden Sie die Details sowie die Namen und Gesicher der neuberufenen BeFo-Mitglieder. Wir fassen zusammen, was sich seit dem letzten ForuM-Bulletin in den Landeskirchen getan tat, und beleuchten sexualisierte Gewalt an Kindern aus therapeutischer Sicht. Und wir berichten über eine spannende Tagung zur sexualisierten Gewalt in den evangelischen Kirchen und der Diakonie, die Anfang der Woche an der Ruhr-Universität Bochum stattfand.

Falls Sie eine Ausgabe des ForuM-Bulletins verpasst haben oder nochmals nachschauen wollen: Alle Ausgaben stehen jetzt auf dieser Seite online, auf der auch die Anmeldung zum kostenlosen Abonnement möglich ist.

Breite Unterstützung für die Arbeit des Beteiligungsforums: Am 26. Juni ließ sich die Kirchenkonferenz (Foto) in der Berliner Diakonie-Zentrale über den Fortgang der Beratungen informieren, ein Tag später der Rat der EKD. Foto: Frank Hofmann
Kirchenkonferenz und Rat der EKD
Einstimmige Unterstützung für die Arbeit des Beteiligungsforums

Die Kirchenkonferenz, bestehend aus den Leitenden Geistlichen und Jurist*innen der 20 Landeskirchen, und der Rat der EKD haben Ende Juni in Berlin jeweils einstimmig bekräftigt, dass sie den Fahrplan und die Arbeit des Beteiligungsforums (BeFo) in vollem Umfang unterstützen. Zuvor hatte der Leiter der Fachstelle Sexualisierte Gewalt, Helge Staff, den aktuellen Stand der Beratungen skizziert. Der Maßnahmenkatalog, der sich aus den 46 Empfehlungen der ForuM-Studie ableitet, umfasst derzeit zwölf Punkte. Zwei davon nannte Staff zu priorisierende »Kernpunkte«: zum einen die Neufassung und Erweiterung der Gewaltschutzrichtlinie um die von der Studie identifizierten besonderen Risikofaktoren in der EKD und der Diakonie, zum anderen die kirchenrechtliche Etablierung eines Rechts auf Aufarbeitung für betroffene Personen, so dass die Aufarbeitung eines Falls nicht dem Zufall oder der freien Entscheidung der zuständigen Stelle überlassen bleibt.

Nach wie vor sei die BeFo-Arbeit gut im Zeitplan: Auf der nächsten Sitzung im September soll der Vorschlag für den Maßnahmenplan finalisiert und an die Gremien Kirchenkonferenz und Rat weitergeleitet werden. Der Rat könnte dann diesen Plan in die EKD-Synode im November einbringen.

Anerkennungsverfahren »kein Applausmodell«

Bis dahin könnte auch der Vorschlag für ein einheitliches Anerkennungsverfahren vorliegen, das im Weiteren an die Landeskirchen mit der Bitte um ihre Stellungnahmen gegeben werden soll. Die BeFo-AG Anerkennung arbeite derzeit daran. Trotzdem warnte die Kirchenpräsidentin der pfälzischen Landeskirche Dorothee Wüst, zugleich BeFo-Sprecherin, vor zu hohen Erwartungen: »Es ist kein Applausmodell, sondern ein Kompromiss. Es wird Einwände von beiden Seiten geben.«

Neue Mitglieder im BeFo

Das BeFo konstituierte sich 2022 mit für zwei Jahre berufenen Mitgliedern. Die drei Betroffenenvertreter*innen Karin Krapp, Elsa Manuela Nicklas-Beck und Matthias Schwarz wurden für zwei weitere Jahre berufen, die kirchlichen Beauftragten Kirsten Fehrs, Daniela Fricke und Christoph Meyns schieden zum 30. Juni aus. Neu berufen wurden für jeweils zwei Jahre Tobias Bilz, Landesbischof in Dresden, Monika Memmel von der Diakonie Württemberg und Heike Springhart, Landesbischöfin in Karlsruhe.

Neu im Beteiligungsforum: Monika Memmel von der Diakonie Württemberg, Landesbischof Tobias Bilz (Dresden) und Landesbischöfin Heike Springhart (Karslruhe) ersetzen die kirchlichen Beauftragten Daniela Fricke (Westfalen), Bischöfin Kirsten Fehrs, amtierende Ratsvorsitzende, und Landesbischof Christoph Meyns (Braunschweig). Fotos: Diakonie/epd (2)
Einladung zur Mitarbeit
Neuer Gaststatus für betroffene Menschen
im Beteiligungsforum

Das Beteiligungsforum will mit einem neuen Gaststatus die Beteiligung von Betroffenen und die Vielstimmigkeit der Betroffeneninteressen stärken. Von sexualisierter Gewalt betroffene Personen sind eingeladen, ihre Erfahrungen und Perspektiven in eine der drei Arbeitsgruppen (AG) Aufarbeitung, Anerkennung oder Diakonie einzubringen. Im Oktober ist ein Workshop geplant, um über die Mitwirkung im Beteiligungsforum zu informieren. Die Anmeldung dazu ist jetzt offen. Der Gaststatus ist ein wichtiger Schritt zur Verbesserung der Partizipation von allen Betroffenen und zur Förderung einer offenen und breiter verknüpften Diskussion über die Schwerpunktthemen der jeweiligen Arbeitsgruppen und Austauschrunden.

In der AG Anerkennung besprechen die Gäste gemeinsam mit den anderen Mitgliedern, wie Anerkennungsleistungen für Betroffene stärker vereinheitlicht und transparenter gestaltet werden können. Dabei geht es auch darum, für alle Betroffenengruppen angemessenere Lösungen zu finden. In der AG Aufarbeitung begleiten Gäste verschiedene Aufarbeitungsprojekte. Im Fokus stehen gerade die Unabhängigen Regionalen Aufarbeitungskommissionen (URAK) und die dort verankerte Betroffenenpartizipation. In der AG Diakonie nehmen Gäste und Arbeitsgruppenmitglieder besonders den Kontext der Diakonie in den Blick und setzen sich unter anderem für eine bessere Unterstützung betroffener Personen in der Diakonie auseinander.

Diese Öffnung ist ein wichtiger Schritt um sicherzustellen, dass die Stimmen einer größeren Gruppe von Betroffenen gehört und gezielt in die Arbeit des Beteiligungsforums eingebracht werden können. Ziel ist es, die Prävention und Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt in Kirche und Diakonie mit Nachdruck voranzutreiben.

»Im Ton respektvoll-freundlich, aber in der Sache klar, so arbeiten wir hart am Detail. Stemmen uns dem evangelischen Versagen und der Amoralität entgegen. Es bleibt natürlich Disharmonie und genau dadurch tritt eine Spannung ein, die wie jede Disharmonie produktiv nach Lösung sucht.«


Kirsten Fehrs über die Arbeit im Beteiligungsforum
in ihrer Rede zum Johannisempfang der EKD
Sabine Lellek führt in Oberursel eine private Praxis als Psychologische Psychotherapeutin für Erwachsene sowie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin. Foto: privat

Das »Laut-und-leise-Dilemma«

Kurzinterview mit der Psychotherapeutin Sabine Lellek

ForuM-Bulletin: Sie beschäftigen sich als Psychologische Psychotherapeutin seit über 25 Jahren mit von sexualisierter Gewalt betroffenen Menschen, vor allem mit Kindern und Jugendlichen. Ist es richtig, dass sich die gesellschaftliche Sensibilität für das Thema stark erhöht hat oder trügt der Eindruck?

Lellek: Ich glaube nicht, dass wir eine erhöhte gesellschaftliche Sensibilität bezüglich dieses Themas haben. Vielmehr ist das Tabu, über sexuelle Übergriffe und Grenzverletzungen zu sprechen, gesunken. Sowohl Kinder, Jugendliche als auch Erwachsene haben ein Gespür für körperlich grenzüberschreitendes Verhalten. Das war auch in zurückliegenden Zeiten so. Heute kann man aber eher und einfacher darüber sprechen, weil es mehr Informationen und weniger Tabus zu diesem Thema gibt. Das hat vielen Menschen geholfen, ihre Scham zu überwinden und mitzuteilen, was ihnen angetan wurde.

Sie kleiden die Unfassbarkeit der sexualisierten Gewalt an Kindern in eine Metapher: Das Thema sei zugleich laut und leise. Was meinen Sie damit?

Sexualität ist auch außerhalb dieser schwierigen Situation des Missbrauchs kein »normales« Thema, über das wir in der Gesellschaft einfach sprechen. Sexueller Missbrauch macht dies noch schwerer. Die Metapher »laut und leise« bezieht sich nicht auf die Unfassbarkeit des sexuellen Missbrauchs, sondern auf den Umgang damit. Sexueller Missbrauch findet immer im Verborgenen statt, also leise. Die Täter*innen agieren im Geheimen, sie verpflichten ihre Opfer zum Schweigen, und diese schweigen auch aus Angst, Scham und auch aus vertrauensvoller Verbundenheit und Abhängigkeit von den Täter*innen. Auch Menschen, die missbräuchliches Verhalten beobachten oder vermuten, tun sich häufig schwer, darüber zu sprechen, aus Angst, jemanden zu Unrecht zu beschuldigen oder darin verwickelt zu werden. Sie fürchten die »lauten« Reaktionen, die Skandalisierung, den Verlust von Ansehen. Der Missbrauch bleibt so »leise« und verborgen. Wird aber endlich darüber gesprochen, wird ein sexueller Missbrauch aufgedeckt, kann es sehr schnell viel zu laut werden. Die Besonnenheit, die nötig ist, um zu klären, wie man effektiv Opfer schützen und Täter*innen zur Rechenschaft ziehen kann, geht dann häufig verloren oder behindert die Aufklärung und Aufarbeitung.

Wie nehmen Sie die Aufarbeitung in den Kirchen wahr? Welchen Rat können Sie uns aus der Außenperspektive geben?

Ich habe die Aufarbeitung der Kirchen nicht detailliert verfolgt. Vergleichbar ist das Vorgehen von Schulen und Sportvereinen, in denen sich sexuelle Übergriffe auf Kinder ereignet haben, die ich durch meine Arbeit häufiger verfolge. Grundsätzlich stehen Mitglieder von Institutionen, wie auch Einzelpersonen, die den Verdacht des sexuellen Missbrauchs in ihrem Umfeld haben, vor dem »Laut-und-leise«-Dilemma. Das macht es schwer und erfordert immer Hilfe von außen. Eine Institution wie die Kirche, die einen hohen moralischen Anspruch vertritt und deren Hauptaufgabe Trost und Fürsorge in den Gemeinden ist, steht wie ähnliche Institutionen, unter enormen Druck. Sie verlieren jegliche Glaubwürdigkeit ihrer Kernkompetenz, wenn sie mit Straftaten dieser Art nicht angemessen umgehen. Dieser Eindruck ist nach meiner Wahrnehmung entstanden. Das Wohl der anvertrauten Menschen wurde institutionellen und persönlichen Machtinteressen in der Kirche untergeordnet.

Der ursprünglich geplante Raum musste kurzfristig gewechselt werden: Das Interesse an der Fachtagung der Ruhr-Universität Bochum überstieg die Erwartungen. Foto: Frank Hofmann
Fachtagung in Bochum
»Bringschuld der Theologie«

Die Absicht der trotz Ferienzeit gut besuchten Tagung »Sexualisierte Gewalt in den evangelischen Kirchen und in der Diakonie« war es, einem Teil der wissenschaftlichen Herausforderungen nachzugehen, die die ForuM-Studie aufgeworfen hat. Im Vordergrund standen dabei zunächst die theologischen Leitbilder, die durch die Studienergebnisse in Frage gestellt wurden. »Die Theologie hat nun eine Bringschuld«, sagte Traugott Jähnichen, Professor für Christliche Gesellschaftslehre an der Ruhr-Universität Bochum (RUB) und Mitveranstalter der Tagung. Die 120 Teilnehmenden erlebten einen emotionalen Auftakt: Johannes Rudolph erzählte zum ersten Mal vor großem Publikum seine Missbrauchsgeschichte und Ute Gause, Professorin für Kirchengeschichte an der RUB, fasste ihre Rekonstruktion eines schier unglaublichen Falls zusammen, bei dem ein Pfarrer über Jahre hinweg seine Beliebtheit für ungezählte Affären mit vulnerablen Frauen und Jugendlichen ausnutzte.

Sigrid Reihs, Theologin und Kuratoriumsmitglied der Stiftung Sozialer Protestantismus, kritisierte die evangelische Idealisierung von Vergebung und die Verallgemeinerung der Sündhaftigkeit aller Menschen. Das helfe nur den Tätern, biete aber keine Botschaft für die Betroffenen. Anschaulich stellte sie den Umgang mit der Vergewaltigung von Tamar in 2. Samuel 13 dem Umgang mit dem Mörder Kain in Genesis 4 gegenüber: Im ersten Fall werde das Opfer unsichtbar gemacht, damit der Täter rehabilitiert werden könne. Im zweiten Fall werde der Täter durch das Kainsmal für seine Schuld das ganze Leben gezeichnet, aber auf eine Weise, die ihm die Wiedereingliederung in die Gemeinschaft möglich macht. Leider folgte die protestantische Praxis eher dem ersten biblischen Muster als dem zweiten.

Gerhard Schreiber (Helmut-Schmidt-Universität Hamburg), bemängelte, dass sich protestantische Ethiken trotz einer schon Jahrzehnte alten Kritik feministischer Theologinnen kaum mit sexualisierter Gewalt beschäftigten. Er warb zudem für einen Perspektivwechsel auf das Thema »Macht«: Im Wortsinn verstanden bedeute der Begriff, etwas vollenden zu können. Machtmissbrauch sei deshalb nicht ein Kennzeichen von Machtstrukturen, sondern ein Indiz für deren Defizite.

Im zweiten Themenblock ging es um sexualisierte Gewalt in diakonischen Umfeldern und um die Verbindungen des Kirchentags mit Protagonisten einer Sexualität, die Pädophilie als Normalfall einschließt. Isolde Karle und Elis Eichner (RUB) brachten professionsethische Überlegungen zur Pastoralmacht ein, Hans-Peter Großhans (Universität Münster) beschrieb ekklesiologische Probleme im Horizont von sexualisierter Gewalt.

Ein besonders prägnanter Vortrag kam von Andreas Kruse (Universität Heidelberg), von 2016 bis 2022 Mitglied des Deutschen Ethikrates und Mitautor der MHG-Studie von 2018. Er beschrieb aus psychopathologischer Sicht, welche gravierenden, lebenslangen Folgen sexuelle Handlungen an Minderjährigen haben können, und forderte von den Kirchen ein Schuldbekenntnis: »Zieht euch dafür die Dienstkleidung aus und geht auf den Jakobsweg.« Denn niemand in der Kirche könne von sich sagen »Ich bin mit mir selbst im Reinen« – jede und jeder müsse sich fragen: Wie stelle ich mich diesem Thema?

Die Beiträge der Tagung sollen 2025 veröffentlich werden. Alle Referatstitel finden Sie in dem hier verlinkten Programm.

Pressekonferenz im Rahmen der hannoverschen Landessynode: Landesbischof Ralf Meister und Nancy Janz, Sprecherin des Beteiligungsforums. Foto: Jens Schulze/epd
Kurzberichte aus den Landeskirchen
»Lernen Sie neue Worte, lernen Sie zuhören und doch da zu sein«

»Ich wollte angenommen und geliebt werden; dafür zahlte ich einen Preis mit meinem Körper. Der Täter nahm mir die Hoffnung, dass es eine Beziehung zu Gott für mich gibt.« Mit eindringlichen, bewegenden Worten führte die Betroffene und Sprecherin des Beteiligungsforums Nancy Janz die Synodal*innen der Landeskirche Hannovers auf ihrer Tagung in Loccum in den Thementag »Prävention, Intervention und Aufarbeitung sexualisierter Gewalt« ein. Trotz ihrer demütigenden Erfahrungen gehöre sie zu denen, die mit der Kirche weiter im Gespräch bleiben wollen, und mahnte neben dem nötigen Strukturwandel auch einen Kulturwandel an: »Interessieren Sie sich für uns, lernen Sie neue Worte, die Sie an uns richten können, lernen Sie zuzuhören und doch da zu sein.«

Landesbischof Ralf Meister dankte Janz für ihr Kommen – »alles andere als selbstverständlich« – und nannte die Anklage der Betroffenen »eine Autorität sui generis, eine Fundstelle Gottes, wo man nicht hinsehen will und es doch tun muss«. Die Kirche, »die nicht gesehen hat, was sie hätte sehen müssen, nicht gehört hat, als sie gesprochen haben, nicht getan hat, was sie hätte tun müssen«, müsse eine Kirche in Umkehr werden, er selbst ein Bischof in Umkehr. Er werde nun Gespräche mit Betroffenen nicht mehr ablehnen, sondern aktiv suchen. Rücktrittsforderungen wies er in der anschließenden Pressekonferenz zurück: Das könnte die Landeskirche in eine »institutionelle Chaoslage« bringen, die die angestoßenen Veränderungsprozesse behindern würden.

Die konkreten Maßnahmen stellte Vizepräsident Ralph Charbonnier vor – darunter eine personelle Aufstockung der Fachstelle Sexualisierte Gewalt um 2,5 Planstellen, die direkte Zuordnung der Stelle zum Leiter des Landeskirchenamtes, eine um 500.000 Euro aufgestockte Förderung von Präventionsarbeit auf Kreis- und Gemeindeebene sowie die kontinuierliche Integration des Themas in die Arbeit der Landessynode.

Die Kirche Hannovers äußerte sich auch zu dem Vorwurf, dass die veröffentlichte Zahl von betroffenen Personen (mindestens 140) zu niedrig sei. Diese frühere Angabe beziehe sich auf die Betroffenen, für die im Rahmen der ForuM-Studie ein kompletter Fragebogen ausgefüllt werden konnte. Berücksichtigt man die Personen, für die keine detaillierten Angaben vorliegen, und diejenigen, die sich erst nach der Studienveröffentlichung meldeten, komme man auf mindestens 190. Weiterhin gelte, dass es wesentlich mehr betroffene Personen gebe als diejenigen, die der Landeskirche direkt, durch Dritte oder aus anderen Quellen bekannt seien.

Die Landeskirche Schaumburg-Lippe hat ein Disziplinarverfahren gegen einen früher dort beschäftigen Pastor eingeleitet, der in einer christlichen Gemeinschaft in Göttingen von 1992 bis zu seinem Ruhestand 2006 sexualisierte Gewalt ausgeübt haben soll. In dieser Zeit war er von der Landeskirche beurlaubt. Aus seiner aktiven Zeit für die Landeskirchen Schaumburg-Lippe (1982-1992) und Hannover (davor) wurden keine Verdachtsfälle bekannt. Betroffene oder ihre Bezugspersonen werden gebeten, sich vertraulich an die Meldestelle zu wenden.

Die Evangelische Kirche in Westfalen (EKvW) hat das Beratungs- und Prüfungsunternehmen Deloitte beauftragt, den Verdachtsfall auf sexualisierte Gewalt in Siegen aufzuklären. Der Fall hatte im November für bundesweite Aufmerksamkeit gesorgt und unter anderem den Rücktritt von Annette Kurschuss von ihren EKD- und EKvW-Ämtern zur Folge. Dabei ging es um einen kirchlichen Mitarbeiter, der im Verdacht steht, über Jahrzehnte sexualisierte Gewalt gegenüber Jungen und jungen Männern ausgeübt zu haben. Die Staatsanwaltschaft hatte die Ermittlungen mit Hinweis auf die Verjährungsfrist bzw. die Volljährigkeit der Betroffenen eingestellt. Doch es bleibe zu prüfen, ob Verstöße gegen kirchliche Gesetze oder das Dienst- und Arbeitsrecht vorliegen, so Ulf Schlüter, Theologischer Vizepräsident der Landeskirche. Zudem gehe es darum, Betroffenen widerfahrenes Unrecht auch jenseits einer strafrechtlichen Bewertung sichtbar zu machen und daraus für die Prävention sexualisierter Gewalt in der Kirche notwendige Schlüsse zu ziehen. »Wir sind davon überzeugt, dass die bei Deloitte langjährig vorhandene Expertise für forensische Untersuchungen eine gute Grundlage für eine Durchdringung und Darstellung dieses vielschichtigen Interventionsfalls bietet.« Mit einem Ergebnis rechnet Schlüter in wenigen Monaten.

Auf der Landessynode der Kirche der Pfalz ging Kirchenpräsidentin Dorothee Wüst, zugleich Sprecherin des Beteiligungsforums, in ihrem Bericht eingehend auf die Ergebnisse der ForuM-Studie ein und unterstrich, dass das Thema »sexualisierte Gewalt« auf allen Ebenen und in allen Arbeitsbereichen auf den Tisch gehört. Ein »Weiter so« gebe es nicht. Mittlerweile stünden 34 Multiplikator*innen zur Verfügung, um in Kindertagesstätten und Kirchengemeinden Prozesse zur Schutzkonzeptentwicklung zu begleiten. Mit einer weiteren von der Kirchenregierung bewilligten Stelle lasse sich nun diese Arbeit deutlich forcieren. In einem Workshop beschäftigten sich Synodale mit dem Thema und markierten durch Thesen, dass und wie das Thema »sexualisierte Gewalt« in den anstehenden Transformationsprozess der Landeskirche einfließen soll, um zu einem grundlegenden Kulturwandel beizutragen.

Im Fall des Angestellten der St. Martini-Gemeinde in Lesum, dem vorgeworfen wird, zwischen 1997 und 2003 Kindern sexualisierte Gewalt angetan zu haben, haben sich auf einen Zeugenaufruf der Staatsanwaltschaft sieben Personen gemeldet. Den Hinweisen werde nun nachgegangen, informierte ein Sprecher der Bremischen Landeskirche. Bisher war ein Fall bekannt.

Die Lippische Landeskirche, die Anfang 2024 zwei Vorfälle sexualisierter Gewalt aus den 80er und 90er Jahren veröffentlicht hatte, geht Hinweisen auf zwei weitere Fälle nach und will diese mit einer neuen Stabsstelle aufarbeiten. Landessuperintendent Dietmar Arends sagte auf der jüngsten Synodentagung: »Auch mit diesen beiden Fällen beschäftigen wir uns inzwischen intensiv, einen Fall haben wir zu einer ersten externen Begutachtung vergeben.« Die Öffentlichkeit wolle man voraussichtlich im Sommer informieren. Außerdem kündigte Arends einen Studientag für Kirchenälteste, Pfarrpersonen sowie Mitarbeitende in der Jugendarbeit und in Kindertagesstätten an, an dem es unter anderem um Ergebnisse aus der ForuM-Studie und die Konsequenzen gehen soll.

KURZ NOTIERT

Dem Mitte Juni als Leiter der Nordkirchen-Stabsstelle Prävention verabschiedeten Rainer Kluck wird eine Doppelspitze folgen. Zum 1. Juli berufen wurde die bisherige Stellvertreterin Katharina Seiler, eine erfahrene Diakonin, Organisationsentwicklerin, Sozialmanagerin und Coachin. Für die zweite Stelle läuft das Bewerbungsverfahren.  +++  Auch die Evangelische Kirche im Rheinland hat eine neue Leiterin für die Stabsstelle für Aufarbeitung und Prävention berufen: Die Kriminologin Katja Gillhausen übernimmt ab sofort die von einer halben zu einer vollen Stelle aufgewertete Position.  +++  In 2023 wurden täglich in Deutschland 54 Kinder und Jugendliche Opfer von sexuellem Missbrauch, so viel wie noch nie. Das ist das traurige Ergebnis des entsprechenden Bundeslageberichts, der in der ersten Juli-Woche vorgestellt wurde.

Christiane Lange engagiert sich auf verschiedenen Ebenen gegen sexualisierte Gewalt. Foto: meDIO
Mitglieder im Beteiligungsforum (4):
Christiane Lange
»Erwachsenen wird leider häufiger unterstellt, ›Du hättest doch nein sagen können‹«
Christiane Lange ist Mitglied der Betroffenenvertretung und engagiert sich auf vielfältige Art für Betroffene sexualisierter Gewalt. Sie ist Mitherausgeberin des Buchs »Entstellter Himmel – Berichte über sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche« und Mitglied von »GottesSuche«, eine ökumenische Initiative für Menschen mit Missbrauchserfahrungen.

Forum-Bulletin: Die Aufarbeitungsstudie ForuM beschäftigt sich vor allem mit Fällen, bei denen die Betroffenen zur Tatzeit minderjährig waren. Viele Menschen denken bei sexualisierter Gewalt gerade im Bereich der Kirche nur an minderjährige Betroffene. Gibt es da Unterschiede zu Betroffenen im Erwachsenenalter?

Lange: Erwachsenen, egal ob 18, 28 oder älter, wird leider häufiger unterstellt, »du hättest doch nein sagen, dich wehren können, du warst doch erwachsen«. So einfach ist das nicht! Täter suchen sich Menschen aus, die es in der Vergangenheit nicht leicht hatten und möglicherweise dadurch in der Abwehr oder dem Selbstwertgefühl geschwächt sind. Ich habe auch in der Kindheit viel Gewalt erfahren. Es hat Jahre in der Therapie gedauert, bis ich verstehen konnte, dass dieses Kind nichts falsch gemacht hat, nicht schuld ist. Für den Missbrauch als Erwachsene gilt dasselbe. Das Gefühl sagt, dass ich selbst schuld war und schämt sich, auch wenn der Verstand weiß, dass es hochgradige Manipulation und Ausnutzung des Abhängigkeitsverhältnisses war. 

Wie kann man sich diese Manipulation vorstellen?

Manipulation lässt sich nicht über einen Kamm scheren, aber einige typische Merkmale sind Schmeicheleien, überschwängliches Lob und Wertschätzung, auch das Anvertrauen von »Geheimnissen«, hohes Interesse an inneren Themen, aber auch viel Aufmerksamkeit mit der ständigen Betonung: Ich will Ihnen/Dir doch nur guttun. Dazu kommt, dass diese Personen meist charismatische Menschen sind, sehr gut reden können und auch im Umfeld ein hohes Ansehen haben. 

Können Sie die Themen, die Ihnen wichtig sind, ins Beteiligungsforum einbringen?

Natürlich! In den Schwerpunktthemen im BeFo gibt es keine Unterschiede zwischen den Missbrauchskontexten. Eines der wichtigsten Themen war für mich von Anfang an, welche Folgen der Missbrauch auf den Glauben und die Beziehung zu Gott bei Betroffenen hat. Das, worum es der Kirche im Kern gehen sollte! In der Studie zeigt sich, dass auch spirituell und theologisch viel im Argen liegt. Bei mir hat der Täter ein Trümmerfeld des Glaubens hinterlassen, das ich langsam versuche aufzuarbeiten. Das Thema ist noch nicht im BeFo als AG gesetzt. Bis vor kurzem waren die Anerkennungsleistungen nicht für Betroffene im Erwachsenenalter möglich. Das ist heute schon geändert. Und an der Reform der Disziplinarverfahren sind wir auch dran, damit es für Betroffene in solch einem Verfahren nicht mehr ganz so belastend ist.  

Sie arbeiten an vielen Projekten von und mit Betroffenen. Was haben Sie gerade Neues in Arbeit?

Im Moment arbeite ich außer im BeFo noch an einem Buchprojekt der ForuM-Studie im Teilprojekt C, die Sicht der Betroffenen. Dort schauen wir verschiedene Bereiche aus dem umfangreichen Interviewmaterial ausführlicher an und lassen die Betroffenen so nochmal zu Wort kommen. Ich widme mich dem spirituellen Missbrauch, soweit er in den Interviews vorkommt. Dann steht der Kirchentag an, bei dem ich nächstes Jahr in verschiedenen Aktionen beteiligt sein möchte. Und inzwischen sind zahlreiche Einzelkontakte entstanden, die ich, soweit es geht, begleite. Und vielleicht ist dies hier ein Anfang, erwachsene Betroffene zu ermutigen, ihren Missbrauch zu melden, damit die Kirche auch dafür sensibler wird.
Zur Fachstelle der EKM gehören die Diakonin Ivonne Stam, Barbara Holtermann und Pfarrerin Dorothee Herfurth-Rogge (von links). Foto: EKM.
Praxisbeispiel aus der EKM
Synodenplanung und Konfi-Camp

Die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland (EKM) verfolgt die Aufarbeitung und Prävention von sexuellem Missbrauch konsequent und strukturiert. So wurde bereits 2013 ein »Unabhängiges Entscheidungsgremium für ergänzende Hilfeleistungen für Opfer sexualisierter Gewalt innerhalb der Kirche« einberufen. Betroffene erhalten angesichts des erfahrenen Leides eine finanzielle Unterstützung.

Ebenfalls seit 2013 gibt es eine umfangreiche Präventionsarbeit in der EKM. In Zusammenarbeit mit dem Evangelischen Zentralinstitut für Familienberatung (EZI) in Berlin wurden Präventionstrainer*innen ausgebildet, die auf Honorarbasis arbeiten; alle Kirchenkreise wurden verpflichtet, Präventionskurse für ihre Mitarbeiter*innen anzubieten. Diese Präventionskurse umfassen sieben Arbeitseinheiten á 90 Minuten und werden zertifiziert.

Die Herbstsynode der EKM stand 2023 ganz im Zeichen der Arbeit mit Betroffenen. Diese berichteten auf der Synode von ihren Erfahrungen und Geschichte, nahmen an Gesprächsgruppen teil und sensibilisierten innerhalb weniger Tage die Synodalen zum Thema sexualisierte Gewalt. Eine bisher nicht dagewesene Besonderheit war das Schutzkonzept der Landessynode. In diesem waren Leitbild, Verhaltensregeln und vor allem interne sowie externe Vertrauenspersonen während und nach der Synode genau festgehalten. Das Konzept der Synode wurde für andere überregionale Veranstaltungen weiterverwendet.

Außerdem war die Fachstelle Teil einer intensiven Beratung und Begleitung im Rahmen der Schutzkonzept-Arbeit für das EKD-weite Konfi-Camp in Wittenberg. Schon lange im Voraus beschäftigte sich das Vorbereitungsteam mit allen notwendigen Fragen rund um Awareness. Die Teamer*innen des »Offenen Ohr«-Teams sind verpflichtet, an verschiedenen Schulungen teilzunehmen und haben entsprechende Unterstützung bei der Fachstelle angefragt. Die hohe Transparenz und Sichtbarkeit der Prävention während des Camps wird realisiert durch Vorab-Informationen an alle Teilnehmenden sowie Eltern und Mitarbeitende und ist gut auffindbar auf der Website des Camps.

Die Schutzkonzept-Arbeit und Beratung nimmt einen Großteil der Arbeit des dreiköpfigen Teams der Fachstelle in Anspruch. Vor allem die Kirchenkreise und Studierendengemeinden im mitteldeutschen Raum machen sich auf den Weg zu einer besseren Prävention. Hinzu kommen zahlreiche zweitägige Weiterbildungskurse, die zum Thema sexualisierte Gewalt schulen und sensibilisieren. Mit dem Schutzkonzept der Synode und des Konfi-Camps in Wittenberg wurden zwei wichtige öffentlichkeitswirksame Bausteine der Präventionsarbeit gesetzt, die dazu anleiten, dass sich die Gemeinden und Gemeindemitglieder in der EKM diesem Thema aufmerksamer widmen und Betroffene in ihren Gemeinschaften besser wahrnehmen.

Detlev Zander und die Regisseurin des Films »Die Kinder aus Korntal«, Julia Charakter, beim SWR-Dokufestival in Stuttgart. Foto: charakterfilm.de

Kultur- und Medientipps

Ein Dokumentarfilm, ein Buch, ein Video-Interview und ein Gespräch
Es dauert noch ein paar Wochen, bis der Dokumentarfilm »Die Kinder aus Korntal« in die Kinos kommt (26. September). Doch schon jetzt hat der Film von Julia Charakter ein breites mediales Echo gefunden, weil das 91-minütige, bereits mit einigen Preisen bedachte Feature über die sexualisierte Gewalt im Kinderheim der pietistischen Brüdergemeinde auch für den renommierten Deutschen Dokumentarfilmpreis 2024 des SWR nominiert wurde. Detlev Zander, Sprecher des Beteiligungsforums, hat an dem Film entscheidend mitgearbeitet. Auch wenn die Auszeichnung dann an ein anderes Werk ging – die Nominierung ist in jedem Fall hilfreich, um Thema und Film bekannter zu machen. Weitere Infos und Trailer hier.

In der Aufarbeitungsdebatte geht es viel um Kulturwandel und um Sensibilität für Betroffene. Um ein besseres Gefühl dafür zu bekommen, wie weit die existenziellen Folgen eines Missbrauchs gehen können, ist der bereits 2020 auf Deutsch erschienene Roman »Scham« von Inès Bayard unbedingt empfehlenswert. Eine junge Frau, die vor einer glücklichen Zukunft steht, wird in der Nähe ihrer Wohnung brutal vergewaltigt und von dem Täter so unter Druck gesetzt, dass sie niemandem davon erzählt. Wie diese Tat ihre Wahrnehmung, ihr Weltbild und ihr Leben verändert, wird von der preisgekrönten Autorin schockierend präzise erzählt. Ein Buch, das vielleicht vor vier Jahren noch nicht genügend Leser*innen gefunden hat (Hanser, 22 Euro).

Ellen Radtke von dem Pastorinnen-Paar »Anders Amen« hat ein sehr informatives  Interview mit Nancy Janz auf ihren YouTube-Kanal gestellt, in dem die Betroffenensprecherin über ihre Enttäuschungen in der Kirche redet, aber auch über die Hoffnungen, die sie mit ihrer Arbeit im Beteiligungsforum verbindet.

Es fing mit einem schlichten Post auf Instagram an: @frauauge, Birgit Mattausch, fragt nach einer neuen Formulierung für die Vergebungsbitte bei Beerdigungen. @kath_ehrensache, Sabine Moßbrucker, kann sich nicht zu einer getippten Reaktion entschließen und bittet Mattausch um ein Telefonat. Der Austausch der beiden ist nun auf der Seite »feinschwarz« dokumentiert. Spitzensatz: »Ich habe mit der Vergebung eines Täters nichts zu tun.« Ein lesenswertes Plädoyer für eine gewaltsensible Theologie und kirchliche Praxis.

Haben Sie Fragen zum Aufarbeitungsprozess in den evangelischen Kirchen oder Diakonie, suchen Sie Informationen? Wir freuen uns über Ihre Mail mit Anregungen, Anfragen und Kritik an praevention@ekd.de. Wenn Sie das ForuM-Bulletin interessant fanden, können Sie es über diesen Link weiterempfehlen. Das nächste ForuM-Bulletin erscheint nach einer kurzen Sommerpause in der zweiten Septemberhälfte mit Berichten von den nächsten Sitzungen des Beteiligungsforums, der Kirchenkonferenz und des Rats.

Bis dahin, herzlich

Ihr Bulletin-Team
Sophia Groth und
Frank Hofmann