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Ausgabe April/Mai 2024
ForuM-Bulletin #2
Inhaltswarnung: In diesem Newsletter geht es um die Aufarbeitung sexualisierter Gewalthandlungen. Einige Schilderungen können belastend wirken. Informationen zu Hilfsangeboten finden Sie hier.
An der Evangelischen Akademie Loccum kamen am vergangenen Wochenende Betroffene, Kirchenleitende, Diakonie-Vertreter*innen und Interessierte ins Gespräch: Landesbischof Ralf Meister, Nancy Janz (Beteiligungsforum), Moderator Olaf Jantz, Dr. Kerstin Gäfgen-Track (Landeskirchenamt Hannover), Detlev Zander (Beteiligungsforum), Hans-Joachim Lenke (Diakonie Niedersachsen). Zum Bericht siehe unten. Foto: Justus Maier
Liebe Leserin, lieber Leser,

seit der letzten Ausgabe des ForuM-Bulletins fanden etliche Landessynoden statt, in denen das Thema sexualisierte Gewalt vorrangig behandelt wurde. Darüber informieren wir Sie in dieser Ausgabe. Gleichzeitig geben wir Ihnen einen Überblick über aktuelle Entwicklungen bei der Aufarbeitung von älteren Fällen und über neue Fälle, die nach der Vorstellung der ForuM-Studie bekannt wurden.

Über Konflikte mit dem Datenschutz, die die Aufarbeitung erschweren können, sprachen wir mit dem Experten Felix Neumann. Außerdem berichten wir von einer Werkstatt-Tagung in der Evangelischen Akademie Loccum, bei der das Thema Aufarbeitung im Mittelpunkt stand.

In den Foren und Gremien der EKD geht es Ende April weiter. Dann trifft sich zunächst das Beteiligungsforum, um weiter an der Konkretisierung der ForuM-Empfehlungen für die EKD-Synode im November zu arbeiten. Am 21. März trafen sich bereits interessierte Synodale in einem digitalen Meeting mit Betroffenenvertreter*innen, um sich noch besser auf die anstehenden Themen vorbereiten zu können.

Travemünder Schuldbekenntnis: Zu Beginn des Eröffnungsgottesdienstes der Frühjahrssynode der Nordkirche bekennen Bischöfin Nora Steen und Präses Ulrike Hillmann das jahrzehntelange Versagen der Kirche. Foto: Susanne Hübner/Nordkirche

Aus den Landeskirchen (1)
Diskussionen auf den Synoden ...

Das Thema Aufarbeitung stand bei den bislang durchgeführten Frühjahrssynoden der Landeskirchen prominent auf der Tagesordnung. Währenddessen wurden neue Studien zu bekannten Fällen präsentiert, aber auch neue Fälle sexualisierter Gewalt bekannt.

Die erste Landessynode nach Präsentation der ForuM-Studie fiel der Nordkirche zu. Präses Ulrike Hillmann und Bischöfin Nora Steen verlasen zu Beginn des Eröffnungsgottesdienstes in der Travemünder St. Lorenzkirche ein Schuldbekenntnis: »Wir sind keine sichere Kirche. In unserer Gemeinschaft wurden und werden Menschen missbraucht. Über viele Jahre und Jahrzehnte. In einer Kirche, die für Freiheit und für die Gottebenbildlichkeit aller steht.« Dem schloss sich Landesbischöfin Kristina Kühnbaum-Schmidt in ihrem Eingangsstatement an und wiederholte dreimal die dringliche Bitte: »Lesen Sie die Studie!« Rainer Kluck, der im Juni scheidende langjährige Leiter der Stabsstelle Prävention, gab einen Rückblick auf 14 Jahre Entwicklung von Präventionsstrukturen und beschrieb auf Basis der ForuM-Studie, was sich noch bessern muss.

Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Oldenburg verabschiedete auf ihrer außerordentlichen März-Tagung eine Resolution, in der sie sich dazu bekennt, »dass unsere Kirche eine klare und transparente Haltung zur Aufarbeitung von Fällen sexualisierter Gewalt anstrebt, die sie verpflichtet, mit großem Engagement eine Kultur der Prävention zu entwickeln«. Konkreter wurde die Evangelische Landeskirche in Württemberg, die sich für eine unabhängige Ombudstelle auf EKD-Ebene und einheitliche Standards für Anerkennungsleistungen, Prävention, Intervention und Aufarbeitung aussprach (zur Stellungnahme). Diskussion und Aussprache zum Thema wurden bewusst nicht im Plenum, sondern in Kleingruppen zusammen mit betroffenen Menschen geführt.

Die Landessynode der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland eröffnete Landesbischof Friedrich Kramer mit einem selbstkritischen Resümee: Die ForuM-Studie leiste »einen wesentlichen Beitrag, um strukturelle Probleme zu erkennen und unsere Präventionsarbeit und Schutzkonzepte darauf auszurichten. Die Ergebnisse werden dazu verwendet, den innerkirchlichen Aufarbeitungsprozess zu schärfen und effektiver zu gestalten.« Dabei müssten auch die eigene Arbeit und Leitungsverantwortung einem kritischen Blick unterzogen werden. Bei der Landeskirche sind in diesem Jahr bereits neun weitere Meldungen sexualisierter Gewalt eingegangen; zwei davon zu aktuellen Vorgängen, verbunden mit arbeitsrechtlichen Konsequenzen.

Das Parlament der Kirche in Bremen, der Kirchentag, befasste sich auf einer Sondersitzung mit dem Thema Aufarbeitung. Der ehemalige Domprediger der Hansestadt hatte, so berichtete es die ForuM-Studie, zwischen 1958 und 1992 gegen mindestens 17 Jugendliche sexualisierte Gewalt ausgeübt. Drei weitere Betroffene meldeten sich nach der Veröffentlichung – ebenso zwei Personen, denen von jeweils anderen kirchlichen Mitarbeitenden Gewalt angetan wurde. Einem Beschuldigten wurde kurzfristig gekündigt. Nun sollen bis Ende 2025 für alle Gemeinden und Einrichtungen detaillierte Schutzkonzepte unter Beteiligung externer Fachkräfte entwickelt werden.

Auf der Synode der Evangelischen Landeskirche in Baden wurde beschlossen, drei neue Stellen für den Bereich zum Schutz vor sexualisierter Gewalt zu schaffen. Am Abend des 17. April trafen sich die Synodalen in einer nicht öffentlichen Diskussionsrunde mit der pfälzischen Kirchenpräsidentin Dorothee Wüst und Nancy Janz vom Beteiligungsforum Sexualisierte Gewalt der EKD zu einem intensiven Austausch.

Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Sachsen lud für den 9. März zu einem ersten Betroffenenforum ein. 20 Personen, zum Teil sogar aus dem Ausland, kamen in den Meißener Klosterhof St. Afra, darunter acht Frauen und eine große Gruppe jener 36 Männer, denen durch den Jugendwart Kurt Ströer sexualisierte Gewalt angetan wurde (siehe ForuM-Studie, Seite 228ff.). Der Moderator und Psychotherapeut Dr. Gregor Mennicken sprach von »einer intensiven Gesprächsatmosphäre bei einer umfangreichen Tagesordnung«. Der nächste Schritt wird ein Workshop für Betroffene sein, die an einer Mitarbeit in der Unabhängigen Regionalen Aufarbeitungskommission (URAK) interessiert sind. Die URAK »Verbund Sachsen« wird sieben Mitglieder haben, davon zwei betroffene Personen.
Gut zwei Wochen nach der Studienpräsentation unterrichtete die Landeskirche Hannover über die Konsequenzen aus dem Fall Oesede: Julia Nortrup (Fachstelle Prävention), Benjamin Simon-Hinkelmann (Presse), Landesbischof Ralf Meister, Jörn Surborg (Synode), Dr. Ralph Charbonnier (Landeskirchenamt) und der Superintendent des betroffenen Kirchenkreises Georg Meyer-ten Thoren (von links). Foto: Frank Hofmann

Aus den Landeskirchen (2)
... und neue Herausforderungen für die Aufarbeitung

Die Landeskirche Hannover gab Mitte März die Konsequenzen bekannt, die sie aus der Ende Februar vorgestellten Studie zum Fall Oesede zieht: Die Fachstelle Prävention wird personell aufgestockt und berichtet ab sofort nicht mehr an den Leiter der Rechtsabteilung, sondern direkt an den neuen Präsidenten des Landeskirchenamtes, Dr. Jens Lehmann. Landesbischof Ralf Meister gab Fehler im Umgang mit betroffenen Menschen zu, lehnte aber einen Rücktritt ab. Im Herbst wird eine weitere Aufarbeitungsstudie erwartet: Dabei geht es um den Fall Klaus Vollmer, Pastor und ehemaliger Leiter der Evangelischen Geschwisterschaft in Hermannsburg, der in den 1980er Jahren mehrfach gegenüber mindestens einer minderjährigen Person sexuell gewalttätig wurde.

Das niedersächsische Landesarbeitsgericht hat das Landeskirchenamt verpflichtet, einen Ende Februar fristlos gekündigten Pastor weiter zu beschäftigen. Dem Mann wurde vorgeworfen, in den 1990er Jahren gegenüber Jugendlichen in der Kirchengemeinde Bad Laer-Glandorf sexuell übergriffig geworden zu sein. Zuletzt war der Beschuldigte im Kirchenkreis Hameln-Pyrmont tätig. Das Gericht sieht keine ausreichenden Anhaltspunkte für die fehlende Eignung des Klägers, verneinte aber einen Anspruch auf Weiterbeschäftigung an der bisherigen Pfarrstelle.

Die Sozialpädagogin Ute Dorczok hat ihren Dienst als Geschäftsführerin der Unabhängigen Regionalen Aufarbeitungskommission (URAK) für die evangelischen Kirchen und die Diakonie in Niedersachsen und Bremen aufgenommen. Sie soll die geplante Kommission mit insgesamt neun Mitgliedern, davon zwei Betroffene, aufbauen. Die URAK arbeitet unabhängig von kirchlichen Weisungen und soll das bereits bestehende System der Aufarbeitung ergänzen.

Ende März wurde eine ForuM-Substudie über einen fast 40 Jahre andauernden Fall in der Gemeinde Brügge-Lösenbach (Westfalen) veröffentlicht. Dort hatte ein ehrenamtlicher Mitarbeiter und langjähriger Presbyteriumsvorsitzender an mindestens 20 Männern sexualisierte Gewalt ausgeübt und mutmaßlich auch drei Frauen vergewaltigt. Der Beschuldigte nahm sich nach Bekanntwerden der Vorwürfe das Leben.

In der Reformierten Kirche stand ein Disziplinarverfahren gegen einen Pfarrer, der bei kirchlichen Freizeiten in den 1980er Jahren sexuell übergriffig geworden war, kurz vor dem Abschluss. Inzwischen meldete sich eine weitere Betroffene, weshalb die Ermittlungen fortgesetzt werden. Der Beschuldigte hat ein Fehlverhalten eingestanden.

Kurz vor und nach der Präsentation der ForuM-Studie hatte sich die Landeskirche in Bayern mit zahlreichen Pressemitteilungen zu Wort gemeldet. Diese »vorschnellen Äußerungen« hat Landesbischof Christian Kopp inzwischen bedauert. Das seien kommunikative Fehler gewesen. »Auch hätte ich mehr Respekt vor den Ergebnissen der Studie zeigen und sagen sollen: ›Nein, das lassen wir jetzt erst mal wirken‹«, sagte er dem Evangelischen Pressedienst. Kurz zuvor waren neue Anschuldigungen von zwei ehemaligen Heimkindern des Nicolhauses im fränkischen Willmars bekanntgeworden, die sich gegen den damaligen örtlichen Pfarrer richten (siehe unten: Medientipp).

Drei Betroffene haben einen ehemaligen Leiter der Evangelischen Kirchenmusikschule in Dresden beschuldigt, sexualisiert gewalttätig geworden zu sein. Die Fälle beziehen sich auf seine Dienstzeit zwischen 1977 und 1988. Die Landeskirche Sachsen hat eine Aufarbeitungskommission gebildet und sucht nach weiteren Betroffenen.

Der Verband Christlicher Pfadfinderinnen und Pfadfinder (VCP) hatte Anfang des Jahres eine bundesweite Studie zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in Auftrag gegeben. Bald darauf wurden in einer anonymen Mail schwere Anschuldigungen gegen einen Mitarbeiter der Kieler Kirchengemeinde Pries-Friedrichsort erhoben, der in einem VCP-Freizeitlager Mitte der 1990er-Jahre Jugendliche sexuell belästigt haben soll. Der Beschuldigte musste damals die Kirchengemeinde verlassen, aber auf Wunsch der Betroffenen wurde keine Anzeige erstattet. »Wir können heute nicht ausschließen, dass dabei Druck auf die Jugendlichen ausgeübt wurde«, sagt die Pröpstin des Kirchenkreises Altholstein, Almut Witt, die nun zusammen mit dem VCP-Landesvorstand nach weiteren Betroffenen sucht und den Fall zur Anzeige bringen will. Nach einer Hellfeld-Studie mit dem Titel »Grenzenlose Orte«, die der interkonfessionelle Bund der Pfadfinderinnen und Pfadfinder (BdP) in Auftrag gegeben hatte und die jetzt vorgestellt wurde, wurde zwischen 1976 und 2006 an 123 BdP-Pfadfinder*innen sexualisierte Gewalt ausgeübt.
»Woher kommt der Eindruck, dass sich die Kirche mit den schuldigen Tätern immer leichter tut als mit den unschuldigen Opfern?«

Johann Baptist Metz
in seinem 2006 erschienenen Buch »Memoria passionis«
Felix Neumann ist Datenschützer mit Leib und Seele. Der katholisch.de-Redakteur schloss sein Studium mit einer Arbeit über die Piraten-Partei ab und gibt das einzige Fachmagazin zum kirchlichen Datenschutz heraus. Foto:angelika-kamlage.de
Fragen an den Datenschützer Felix Neumann
»Die Rechte der Betroffenen nicht noch einmal übergehen«

Zur Aufarbeitung von Fällen sexualisierter Gewalt braucht man Informationen über Menschen und Sachverhalte, die dem Datenschutz unterliegen. Welche Konflikte entstehen dadurch in der Praxis nach Ihrer Erfahrung?

Neumann: Die EKD hat vieles richtig gemacht, indem sie in ihr Datenschutzgesetz mit § 50a DSG-EKD eine eigene Norm für die Verarbeitung personenbezogener Daten zur institutionellen Aufarbeitung sexualisierter Gewalt aufgenommen hat. Damit gibt es eine klare Rechtsgrundlage. Diese Rechtsgrundlage birgt aber auch Konflikte: Aufarbeitung wird als »überragendes kirchliches Interesse« definiert, hinter dem Rechte der Betroffenen zurückstehen müssen. »Betroffene« heißt datenschutzrechtlich: die Personen, deren Daten verarbeitet werden – ob Beschuldigte oder Betroffene sexualisierter Gewalt. Gerade bei letzteren halte ich es für nicht angezeigt, Datenschutzrechte einzuschränken. Mit der Regelung können ihre Daten ohne Einwilligung verwendet werden und sie müssen auch nicht darüber informiert werden. Von einer betroffenenzentrierten Handlungsweise, wie sie die ForuM-Studie anmahnt, erwarte ich anderes. Wenn Betroffene erfahren, dass ihre Daten auf dieser Rechtsgrundlage verwendet werden, können sie sich zurecht übergangen fühlen. Konflikte entstehen auch dann, wenn sich die Kirchen zu Herren des Verfahrens machen und entscheiden, was für Betroffene am besten ist, etwa wenn sie unter dem Argument des Schutzes vor Retraumatisierung die Bedingungen festlegen wollen, wie Betroffene Auskunftsrechte geltend machen können.

Beim Großteil der bekannten Fälle handelt es sich um Mehrfachtäter. Um nach der Meldung eines Falls nach weiteren betroffenen Personen zu suchen, müssen Details veröffentlicht werden, die den Täter oft kenntlich machen. Wie ist damit rechtssicher umzugehen?

Das ist eine komplizierte rechtliche Frage, die weit über Fragen des Datenschutzes hinausgeht und wohl in jedem Einzelfall Abwägungen erfordert. Abseits der rechtlichen Bewertung empfehle ich, hier die Expertise von Betroffenen sowohl für allgemeine Regelungen wie für konkrete Fälle einzubeziehen. Aufrufe bergen immer die Gefahr, dass Details aus den bekannten Fällen an die Öffentlichkeit kommen und man damit Betroffene unabsichtlich selbst mit in die Öffentlichkeit stellt.

Was ist beim Umgang mit den Namen verstorbener Täter zu beachten? Es gibt ja ein »postmortales Persönlichkeitsrecht« und die Rechte der Nachkommen ...

… dazu kommt, dass verstorbene Täter in vielen Fällen eben keine rechtskräftig verurteilten Täter sind, sondern Beschuldigte, bei denen eine Klärung der Vorwürfe rechtlich nicht mehr möglich ist. Tote können sich nicht verteidigen. Im katholischen Bistum Aachen hat man sich dafür entschieden, sich am Kunsturhebergesetz zu orientieren. Dort wird geregelt, dass Angehörige bis zu zehn Jahre nach dem Tod zustimmen müssen, wenn Bilder des Verstorbenen veröffentlicht werden sollen. Das Bistum veröffentlicht daher die Namen verurteilter und mutmaßlicher Täter erst zehn Jahre nach dem Tod. Dabei ist die Messlatte sehr niedrig gelegt, wann jemand als mutmaßlicher Täter gilt. Schon ein positiv beschiedener Antrag auf Anerkennung des Leids genügt. Dafür braucht es zurecht viel weniger Belege als für eine strafrechtliche Verurteilung. Ob das Aachener Vorgehen rechtlich trägt, wird sich zeigen – erste Angehörige haben schon vor Monaten Klagen angekündigt. Über den aktuellen Stand dieser Klagen ist noch nichts bekannt.

Zu welchem Vorgehen raten Sie, wenn betroffene Menschen mit der weiteren Verwendung vertraulicher Mails oder anderer relevanter Daten nicht einverstanden sind?

Den Willen der Betroffenen sexualisierter Gewalt respektieren und akzeptieren. Datenschutz ist ein Grundrecht. Gerade in der Missbrauchsaufarbeitung gilt es, die Rechte der Betroffenen nicht noch einmal zu übergehen. Sehr hilfreich fand ich in diesem Zusammenhang die Stellungnahme des Arbeitskreises der Betroffenenbeiräte in der katholischen Kirche zu genau dieser Frage. Die Betroffenenvertreter*innen fordern, Daten von Betroffenen sexualisierter Gewalt nur mit Einwilligung für die Aufarbeitung zu verwenden. Dabei weisen sie darauf hin, dass bereits jetzt eine große Zahl an Daten vorliegt und Methoden der Sozialwissenschaft nahelegen, dass nicht jeder einzelne Fall mit allen Akten analysiert werden muss, um zu validen Schlussfolgerungen für die institutionelle Aufarbeitung zu kommen.

Maria Loheide steht vor der Herausforderung, die Empfehlungen der ForuM-Studie auf die vielfältigen Einrichtungen der Diakonie herunterzubrechen. Foto: Diakonie/Die Hoffotografen
Mitglieder im Beteiligungsforum 2:
Maria Loheide 
»Manchmal herausfordernd«
Maria Loheide ist die hochrangigste Vertreterin der Diakonie im Beteiligungsforum. Seit 2011 ist sie im Vorstand des Bundesverbandes für Sozialpolitik zuständig. Eine ihrer Hauptaufgaben ist die sozialpolitische Lobbyarbeit gegenüber der Bundespolitik. Loheide wurde in Beelen geboren, studierte im nahen Münster Soziale Arbeit und begann ihre Karriere bei der Diakonie 1989.

Sie haben seit vielen Jahren im Verbandsmanagement Erfahrung. Was haben Sie im Beteiligungsforum neu gelernt?

Loheide: Das Beteiligungsforum ist ein Gremium besonderer Art. Vergleichbares gibt es in der regelhaften Verbandsarbeit kaum. Die intensiven Aushandlungsprozesse auf Augenhöhe sind manchmal herausfordernd, benötigen viel Feingefühl und ausreichend Zeit. Eigene Sichtweisen muss man immer wieder hinterfragen. Ich lerne durch die Arbeit im Beteiligungsforum ständig dazu und gewinne neue Perspektiven. Das ist für mich eine enorme Bereicherung.

Wie erleben Sie die Atmosphäre in diesem Gesprächskreis?

Die Atmosphäre erlebe ich als sehr wertschätzend. Der Umgang miteinander ist von aufmerksamem Zuhören und gegenseitigem Respekt geprägt. Es hat aber auch eine Zeit der Annäherung und des Kennenlernens gebraucht. Die Tagesordnungen des Beteiligungsforums sind immer sehr dicht und die Sitzungen arbeitsintensiv und oft anstrengend. Umso schöner ist die Zeit an den Abenden für den lockeren Austausch. Die gute professionelle Begleitung und Moderation des Beteiligungsforums sorgen dafür, dass alle Anliegen ihren Raum haben und Stimmungen aufgefangen werden. Auch das trägt zu einer guten Atmosphäre bei.

Wo sehen Sie die wichtigsten Unterschiede in den To-Dos von Kirche und Diakonie?

Es wird jetzt darum gehen, die Empfehlungen der ForuM-Studie diakoniespezifisch herunterzubrechen. Das betrifft alle Arbeitsbereiche; die der Tageseinrichtungen für Kinder ebenso wie die der Beratungsstellen und Einrichtungen der Eingliederungs- und Altenhilfe. Die Herausforderung ist, für die vielen eigenständigen Träger und Einrichtungen der Diakonie Wege der Selbstverpflichtung und Verbindlichkeit zu schaffen. Die Diakonie muss ein sicherer Ort für Menschen sein, die in der Obhut ihrer Einrichtungen sind, die Bildung, Unterstützung und Hilfe in Anspruch nehmen.

Durch die Tagung führte Dr. Christian Brouwer, Studienleiter für Theologie und Ethik an der Akademie Loccum. Foto: Nicole Toms

Werkstatt Aufarbeitung

Bericht von einer Tagung in der Evangelischen Akademie Loccum

Vom 12. bis 14. April 2024 fand in Loccum die Tagung »Sexualisierte Gewalt im Raum der Kirche und der Diakonie« statt. Bis zu 60 Personen haben von Freitag bis Sonntag zu diesem Thema diskutiert und sich ausgetauscht. Neben Vertreter*innen aus unterschiedlichen Landeskirchen – vom Landesbischof bis zum*zur Gemeindepfarrer*in – und diakonischen Einrichtungen waren auch Betroffene anwesend.

Das Programm war prall gefüllt, dennoch konnten in den Pausen und am Abend intensive Gespräche stattfinden, die, wie so oft auf solchen Tagungen, besonders wertvoll waren. Die Vernetzung der im Feld tätigen Personen wurde gefördert.

Die Forderung aus den Berichten der betroffenen Personen, nun endlich die notwendigen Konsequenzen zu ziehen, zog sich durch alle Tagesordnungspunkte. Die durchaus komplexen Strukturen der evangelischen Kirche und deren Diakonie dürften nicht dazu führen, dass es nur eine schleppende Auseinandersetzung mit den Ergebnissen der ForuM-Studie und der Umsetzung ihrer Empfehlungen gebe. Eindrücklich brachten Betroffene auf dem Podium, aber auch in Kleingruppenphasen ihre Erfahrungen ein.

Es zeigte sich aber auch, dass die Kommunikation zu dem Thema sexualisierte Gewalt noch deutlich besser werden muss. Auf der landeskirchlichen Fachebene passierte in den letzten Jahren bereits einiges, aber noch zu häufig kommen die Informationen nicht bei der Basis an. Dies gilt leider in noch viel stärkerem Ausmaß bei der Kommunikation mit Betroffenen. Hier bessere und übersichtlichere Strukturen zu schaffen und es nicht mehr dem Glück zu überlassen, an welche Person im kirchlichen Kontext man als Betroffene oder Betroffener gerät, war eine dringliche Forderung der Tagung. Nicole Toms

Cornelia Schönfuß ist die Präventionsbeauftragte der Diakonie Leipzig und hat dort die Entwicklung eines Gewaltschutzkonzepts begleitet.
Praxisbeispiel
Gewaltschutzkonzept der Diakonie Leipzig

Wie können Altenpflegeheime und Kindertagesstätten koordiniert gegen sexualisierte Gewalt vorgehen? Eine Organisation wie die Diakonie Leipzig muss für viele unterschiedliche Felder einen gemeinsamen Nenner finden.

Auf einer Klausurtagung der leitenden Fachkräfte aller Dienststellen im Juni 2019 wurde der Arbeitskreis Gewaltschutzkonzept gegründet, um diese Herausforderung zu bewältigen. Zentrale Aufgabe ist die Erarbeitung eines Rahmenschutzkonzeptes, das noch in diesem Jahr veröffentlicht werden soll. Das Gewaltschutzkonzept macht Vorgaben für alle Einrichtungen, die dann ihre eigenen Schutzkonzepte entwickeln. So kann bei einheitlichen Standards auf die unterschiedlichen Gegebenheiten der Einrichtungen eingegangen werden. Dabei geht es darum, den Schutz vor Gewalt als grundlegendes Anliegen zu verstehen, eine professionelle Beziehungsgestaltung als Auftrag und Anspruch zu definieren und den Schutz aller – auch der bei der Diakonie Leipzig angestellten Menschen – in den Blick zu nehmen. Ziel ist es, ein gelebtes Gewaltschutzkonzept in allen Einrichtungen zu haben und Gewaltschutz als festen Bestandteil in allen Strukturen zu etablieren.

Folgende Punkte sind zentral für gute Präventionsarbeit:

  • Präventionsstelle: Seit Januar 2023 gibt es eine Präventionsstelle bei der Diakonie Leipzig. Zuvor haben die Mitglieder des Arbeitskreises Gewaltschutz ausschließlich neben ihrer eigentlichen Tätigkeit am Thema sexualisierte Gewalt gearbeitet. Gerade in Zeiten mit hohem Personalausfall, musste dabei immer wieder die Teilnahme einzelner Fachbereiche abgesagt werden. Die Präventionsbeauftragte kann nun die Arbeit aller Multiplikator*innen koordinieren, Einrichtungen beraten und Mitarbeitende schulen. So bleibt das Thema zentral und wird nicht hintenangestellt, wenn die Arbeitsbelastung bei anderen Tätigkeiten steigt.
  • Sensibilisierung: Es war nicht immer in allen Einrichtungen und bei allen Mitarbeitenden klar, dass das Thema sexualisierte Gewalt wichtig ist. Wenn der Fokus auf Gewalt gegen Kinder liegt, ist Sensibilisierung wichtig, um auch in Bereichen wie Beratung oder Pflege und Wohnen die Relevanz des Themas zu etablieren. Sensibilisierung läuft viel über Leitung. Hier gab es Vorträge und mehrere Fachtage. Fortbildungen für Mitarbeitende tragen die Inhalte auch in die Breite. Viele Einrichtungen haben eigene Multiplikator*innen, die Prävention an ihrem Arbeitsplatz zum Thema machen.
  • Austausch: Die Multiplikator*innen stehen auch miteinander im Austausch über aktuelle Problemfälle. Sie können sich gegenseitig beraten und unterstützen. So wird das Thema wachgehalten. Es ist in allen Arbeits- und Fachbereichen ein bisschen unterschiedlich, aber es gibt überall engagierte Menschen, die den Prozess anschieben und am Laufen erhalten.
 

Medientipp 1

BR-Dokumentation über Missbrauchsfälle
Die Ende März gesendete Folge »Missbrauch evangelisch: Wegsehen und verschweigen« aus der Reihe »Stationen« bleibt in der ARD-Mediathek verfügbar. Sie zeigt die Aufarbeitungsdefizite in den Fällen Vilshofen und Willmars. Im niederbayerischen Vilshofen hatte ein Jugendpfarrer zwischen 1984 und 1987 die Konfirmandin Kerstin F. mehrfach vergewaltigt. Im evangelischen Kinderheim Nicolhaus im fränkischen Willmars quälte in den 1970er-Jahren ein niedersächsischer Diakon mindestens zwei Kinder mit sadistischen und sexualisierten Gewalttaten. Die von der ForuM-Studie bemängelte Verantwortungsdiffusion wird an diesem zweiten Fall exemplarisch dargestellt. Die Vorwürfe der Betroffenen richten sich inzwischen auch gegen den damaligen Ortspfarrer, der die Heimaufsicht hatte. Er habe die Kinder, nachdem sie sich ihm anvertrauen wollten, zunächst brutal geschlagen und ihnen dann ebenfalls sexuelle Gewalt angetan. Der Missbrauch habe vier Jahre angehalten und sei von der Frau des Pfarrers und von Erzieherinnen gedeckt worden.

Medientipp 2

Talkrunde mit Detlev Zander, Margot Käßmann und Harald Schmidt
Das »Nachtcafé« ist eine inzwischen 37 Jahre alte Talksendung des SWR mit Kultstatus, aber immer noch erfrischend lebendig. Im Gegensatz zu anderen Talkformaten sucht Moderator Michael Steinbrecher seine Gäste spezifisch zu einem Thema aus. In der Sendung von Ende März kamen unter der Überschrift »Wie zeitgemäß ist Kirche?« Menschen mit ganz unterschiedlichen religiösen Erfahrungen zusammen. Über die berührenden Schilderungen Detlev Zanders von der Gewalt, die er im Korntaler Kinderheim Hoffmannhaus der evangelisch-pietistischen Brüdergemeinde erleiden musste, kamen die Gäste in ein intensives Gespräch.

 
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Bis dahin, herzlich

Ihr Bulletin-Team
Sophia Groth und
Frank Hofmann