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Ausgabe Dezember 2024
ForuM-Bulletin #6
Inhaltswarnung: In diesem Newsletter geht es um die Aufarbeitung sexualisierter Gewalthandlungen. Einige Schilderungen können belastend wirken. Informationen zu Hilfsangeboten finden Sie hier.
Der Bericht des Beteiligungsforums, vorgetragen von Detlev Zander, Nancy Janz und Dorothee Wüst (von rechts), stieß bei der Synodaltagung in Würzburg auf großes Interesse. Links Präses Anna-Nicole Heinrich und Präsidiumsmitglied Uwe Becker. Foto: EKD/MCK
Liebe Leserin, lieber Leser,

zehn Monate nach Erscheinen der ForuM-Studie hat die Synode der EKD auf ihrer Tagung in Würzburg einen Maßnahmenkatalog und ein neues Disziplinargesetz verabschiedet. Die Details dazu erfahren Sie in unserem ersten Artikel. Außerdem berichten wir über den Start der Vernetzungsplattform BeNe, über ein interdisziplinäres Symposium in Tutzing zum Thema in Tutzing und über neue Schutzkonzepte in der Diakonie und beim Deutschen Evangelischen Kirchentag.

Da gingen alle Hände nach oben: Sowohl der Maßnahmenplan als auch das neue Disziplinargesetz wurden ohne Gegenstimmen von den EKD-Synodalen verabschiedet. Foto: EKD/MCK
Synodaltagung in Würzburg
ForuM-Maßnahmenplan und neues Disziplinargesetz beschlossen

Einstimmig hat die Synode der EKD auf ihrer Tagung in Würzburg den ForuM-Maßnahmenplan beschlossen, den das Beteiligungsforum in den letzten Monaten ausgearbeitet hat. Dabei sind die 46 Empfehlungen der im Januar vorgestellten ForuM-Studie in zwölf konkrete Maßnahmen eingeflossen – unter anderem eine Novelle der Gewaltschutzrichtlinie, die Schaffung einer zentralen Ombudsstelle, eine Aufarbeitungsrichtlinie und die Vereinheitlichung der Personal- und Disziplinaraktenführung in den Landeskirchen. Diese Maßnahmen sollen bis 2027 abgeschlossen sein, andere, wie Förderung des gesellschaftlichen Dialogs und Sensibilisierung für das Thema, sind dauerhafte Aufgaben. Matthias Schwarz, Mitglied der Betroffenenvertretung im Beteiligungsforum (BeFo), kommentierte: »Ja, der Plan ist gut. Jetzt ist die Zeit, vom Plan ins Handeln zu kommen.« Der Maßnahmenkatalog wird nun an den Rat mit der Bitte um unverzügliche Einleitung der Umsetzung weitergeleitet.

Ebenfalls einstimmig wurde von den Synodalen das neue Disziplinargesetz in Kraft gesetzt. Mit den Änderungen werden die Rechte von Betroffenen in Disziplinarverfahren gestärkt. Sie bekommen Akteneinsicht, ein Informationsrecht und können sich von bis zu drei Personen im Verfahren begleiten lassen.

Den Bericht über die Arbeit des Beteiligungsforums teilten sich Detlev Zander (am Pult), Nancy Janz und Dorothee Wüst (im Hintergrund von rechts). Foto: EKD/MCK

Den Bericht über die Arbeit des BeFo teilten sich Detlev Zander, Nancy Janz und Dorothee Wüst. Zander, Co-Sprecher der Betroffenenvertretung, ging auch auf die Richtlinie ein, die zu einheitlichen Anerkennungsstandards in der EKD und der Diakonie führen soll. Die Verhandlungen darüber seien »eine Zerreißprobe für das Beteiligungsforum insgesamt, aber für die Betroffenen im Besonderen« gewesen. Der nun vorliegende Vorschlag sieht ein Kombimodell aus einer individuellen Leistung und einer pauschalen Leistung von 15 000 Euro in den Fällen, die nach dem 13. Abschnitt des Strafgesetzbuchs strafbar sind, vor. Zu der Richtlinie können bis Ende November noch die Landeskirchen und diakonischen Landesverbände ihre Stellungnahmen eintragen. Grundsätzliche Änderungen seien dabei, so Ratsmitglied Stefan Werner, nicht zu erwarten, weshalb mit einem Inkraftsetzen der Richtlinie durch den Rat im März gerechnet wird.

Nancy Janz, Co-Sprecherin der Betroffenenvertretung, wies auf den erfolgten Start von BeNe, der digitalen Plattform für Betroffene von sexualisierter Gewalt in und außerhalb der Kirche, hin (siehe unten). Momentan sei dort vor allem Kritik an der Arbeit des Beteiligungsforums zu finden. »Ja, das Beteiligungsforum ist der Weg, den wir als Mitglieder gewählt haben. Dass es daneben weitere Wege gibt, seine Meinung und Forderungen laut werden zu lassen, ist nicht nur legitim, sondern sogar unbedingt notwendig und wichtig! Es braucht Druck von allen Seiten für dasselbe Ziel.«

Dorothee Wüst, Sprecherin der kirchlich Beauftragten, berichtete, dass der Aufbau der geplanten neun unabhängigen regionalen Aufarbeitungskommissionen (URAK) im Zeitplan liege. Im Frühjahr 2025 sollen sie ihre Arbeit aufnehmen. Nächste Schritte sind jetzt die Besetzung der Geschäftsführungen, die Verständigung über Kommissionsmitglieder aus dem kirchlich-diakonischen Kontext sowie die Benennung von unabhängigen und externen Expert*innen durch die jeweiligen Landesregierungen. Der wichtigste Schritt sei aber die Sicherstellung der Beteiligung betroffener Personen in den Kommissionen, wozu derzeit in allen Verbünden Foren und Workshops veranstaltet werden.

Matthias Schwarz von der Betroffenenvertretung im BeFo kommentierte den Maßnahmenplan. Foto: EKD/MCKGegenüber dem Tagungsort versammelten sich auf Initiative von »Vertuschung beenden« einige Betroffene, deren Anliegen in eigens dafür geschaffenen Dialogräumen gehört und über eine Anwältin des Publikums ins Plenum gegeben wurden. Foto: Frank Hofmann

Zwischen der Einbringung der Anträge und den Beschlüssen wurden die Vorlagen in Ausschüssen beraten, an denen jeweils auch mindestens eine Person aus der Betroffenengruppe im BeFo teilnahm. Die Gesprächsatmosphäre sei erheblich offener und konstruktiver gewesen als in den früheren Jahren, so die Einschätzung von Beteiligten.

Zu der Synodaltagung waren auch von sexualisierter Gewalt betroffene Menschen angereist, die nicht im BeFo engagiert sind. Sie konnten in eigens dafür geschaffenen Dialogräumen mit Synodalen, Ratsmitgliedern, einer Vertreterin der Diakonie und der Anwältin des Publikums, Julia von Weiler, sprechen. Von Weiler brachte die gesammelten Fragen und Statements ins Plenum ein. Das BeFo wird sich in seinen nächsten Sitzungen damit befassen, welche Themen davon bislang noch nicht ausreichend berücksichtigt wurden. In einem Pressegespräch wies Nancy Janz darauf hin, dass sich auch in den sich konstituierenden URAK neue Beteiligungsmöglichkeiten für betroffene Menschen gebe.

Die Vernetzungsplattform BeNe ist eine Seite und ein Forum von Betroffenen für Betroffene. Bild: BeNe
Betroffenennetzwerk BeNe gestartet
Die Seite von Betroffenen für Betroffene

Seit dem 8. Oktober ist das Betroffenennetzwerk BeNe online. BeNe wurde durch die Arbeitsgruppe »Vernetzungsplattform BeNe« des Beteiligungsforums entwickelt und gibt von sexualisierter Gewalt Betroffenen die Möglichkeit, sich auszutauschen und zu vernetzen.

BeNe ist eine Seite von Betroffenen für Betroffene von sexualisierter Gewalt. Das zentrale Element ist die Kommunikation in Foren. Hier können verschiedenste Themen in einem sicheren Rahmen diskutiert werden. BeNe ist nach hohen Sicherheitsstandards konzipiert worden. Ein Moderationsteam sorgt dafür, dass Diskussionen in einem Rahmen bleiben, in dem sich möglichst alle wohlfühlen.

Auf BeNe können Betroffene außerdem über eine Pinnwand Hinweise auf Veranstaltungen oder kreative Beiträge teilen. Man findet dort gebündelte Informationen, zum Beispiel über Fachstellen der evangelischen Kirche und Diakonie und zu unabhängigen Unterstützungsangeboten.

BeNe ist ein Angebot für alle von sexualisierter Gewalt Betroffenen, unabhängig vom Tatkontext. Finanziert wird das Projekt durch die EKD nach einem Beschluss der Synode der EKD.

»Unsere Arbeit ist ein Spagat, der uns viel Kraft kostet, der Ärger und Grollen mit sich bringt. Diesen Spagat machen wir, weil es Lösungen braucht.«

Nancy Janz über die Zusammenarbeit im BeFo
Gerhard Schreiber ist Professor an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr in Hamburg. Foto: Ulrike Schröder/HSU
Interview mit Gerhard Schreiber
»Ein blinder Fleck in der evangelischen Ethik«

Der Theologe und Ethiker Gerhard Schreiber hat sich 2022 mit einer 848 Seiten starken Arbeit über Sexualität und Gewalt habilitiert. Dies ist die bislang umfangreichste theologisch-ethische Untersuchung des Themas. Wir fragten den an der Hamburger Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr Lehrenden nach den Fortschritten seit dem Erscheinen der Studie.

Herr Schreiber, wie sind Sie in der 2010-er Jahren zu diesem Thema gekommen und welchen Vorurteilen sind Sie bei Ihren Recherchen begegnet?

Es war die Feststellung, dass das Thema Sexualität und Gewalt – abgesehen von feministisch-theologischen Diskursen – in den etablierten christlichen Theologien noch bis Ende der 2000er Jahre kaum Beachtung gefunden hat. Besonders in der evangelischen Ethik gibt es einen blinden Fleck, da Sexualität als gute Gabe Gottes betrachtet wird, ihre verhängnisvolle Anfälligkeit für Gewalt aber weitgehend ausgeblendet bleibt. In der evangelischen Theologie weisen sämtliche prominenten Ethikentwürfe der Nachkriegszeit – ausnahmslos von Männern verfasst – ein fast vollständiges Schweigen zu diesem Thema auf.

Gilt die »Zurückhaltung der evangelisch-theologischen Ethik gegenüber Sexualität und Gewalt«, die Sie in Ihrer Arbeit festgestellt haben, immer noch oder hat sich daran etwas geändert?

Seit Anfang der 2020er Jahre hat es mehrere Versuche gegeben, das Thema Sexualität und Gewalt in der evangelischen Theologie in Tagungen und Publikationen zu behandeln, und auch in Evangelischen Akademien wird das Thema nicht mehr grundsätzlich ausgeblendet. Dennoch bleibt der schale Eindruck, dass diese Auseinandersetzung oft bewusst hinausgezögert wurde, um zunächst die Ergebnisse der ForuM-Studie abzuwarten. Sexueller Missbrauch im Raum der Kirche ist ein Geschehen im Rahmen eines komplexen Bedingungsgefüges, das sowohl strukturelle und systemische Faktoren als auch theologische Denkfiguren und Haltungen umfasst. Solange diese Zusammenhänge nicht reflektiert werden, scheint mir eine wirkliche Aufarbeitung schwerlich möglich.

Haben Sie die Ergebnisse der ForuM-Studie überrascht?

Leider nein, denn bei meiner Untersuchung zeigte sich, dass missbrauchsbegünstigende Faktoren, Strukturen und Dynamiken kein spezifisch katholisches Phänomen sind. Beispielsweise ist der in diesem Zusammenhang immer wieder angeführte Pflichtzölibat für bestimmte Personengruppen in bestimmten Konstellationen zwar ein Risikofaktor, aber keine monokausale Erklärung für sexuellen Kindesmissbrauch. Missbrauch ist ein Problem der Kirche insgesamt, nicht einzelner Konfessionen. Deshalb ist es wichtig, auch institutionelle Faktoren aufzudecken und Machtstrukturen aufzubrechen, die zur Entstehung und Aufrechterhaltung von Missbrauch beitragen und einer wirksamen Prävention und Intervention entgegenstehen. In Anlehnung an eine Aussage von Jürgen Habermas formuliert: Nicht nur der Kern der Gewalt ist das Problem, sondern auch die Schale, in der sie gedeiht.

Wie sehen Sie den bisherigen Aufarbeitungsprozess in den Gremien der EKD? Ist die Kirche Ihrer Empfehlung zu einem »ausdauernden Zuhören« nähergekommen?

Dies kann ich nur aus offiziellen Verlautbarungen der EKD und Gesprächen mit Mitgliedern kirchlicher Gremien und Interessenvertretungen beurteilen. Auf der Ebene der Kirchengemeinden zeigen sich zuweilen Ermüdungserscheinungen, wenn es um Schulungen und Schutzkonzepte geht – dann hört man ein »schon wieder«. Gleichzeitig ist dort, wo persönliche Begegnungen mit Überlebenden sexualisierter Gewalt Raum bekommen, das Zuhören intensiver und die Bereitschaft größer, das Gehörte zu verarbeiten und Veränderungen einzufordern. Doch Zuhören allein reicht nicht aus. Vielerorts – insbesondere auf gemeindlicher und landeskirchlicher Ebene – fehlt es an echter Beteiligung und niedrigschwelligen Angeboten, um sprachfähig und hörwillig zu werden. Auch die bestehenden kirchlichen Strukturen erschweren zum Teil massiv eine zeitnahe individuelle Unterstützung, angemessene finanzielle Entschädigung sowie eine proaktive Aufklärung durch die Kirche selbst.

Der Humanwissenschaftler Andreas Hoell zeigt auf der Fachtagung in Tutzing, mit welchem Ansatz man sich den »Kosten« einer sexualisierten Gewalterfahrung im Kindes- oder Jugendalter nähern kann. Quelle: Foto: Frank Hofmann

Fachtagung Sexualisierte Gewalt in Institutionen
Braucht es noch mehr Forschung?

Mit sexualisierter Gewalt in Institutionen beschäftigen sich zahlreiche Wissenschaften: Soziologie, Psychologie, Erziehungswissenschaften, Soziale Arbeit, Rechtswissenschaften, Medizin, Geschichtswissenschaften und nicht zuletzt auch die Theologie. Vertreter*innen all dieser Disziplinen brachte nun eine Fachtagung zusammen, die die Evangelische Akademie in Tutzing zusammen mit dem Institut für Praxisforschung und Projektberatung organisierte. Man hatte mit zwei, drei Dutzend Teilnehmenden gerechnet, doch zur Eröffnung war die Rotunde des Tutzinger Schlosses mit 100 Personen gefüllt. Methodisch wurde in nahezu allen Beiträgen die adäquate Beteiligung betroffener Menschen als Erfahrungsexpert*innen und Co-Forschende sowie die Frage der Unabhängigkeit trotz Finanzierung durch Auftraggeber thematisiert. Rechtsanwalt Ulrich Wastl kündigte an, im Frühjahr 2025 zusammen mit 17 weiteren Kanzleien einen Anforderungskatalog für Aufarbeitungsstudien zu präsentieren.

Kontrovers wurde diskutiert, ob es wirklich noch mehr Studienaufträge braucht oder ob diese nicht auch eine bequeme Ausrede sein können, mit konkreten Maßnahmen noch zu warten. Im Verlauf der Tagung zeigte sich, dass es noch viele offene Fragen gibt – zum Beispiel zu sexualisierter Gewalt in der Familie. Die wird zwar zunächst als Gegenbegriff zur Institution verstanden, andererseits, so Barbara Kavemann (Freiburg), weise sie Merkmale einer »totalen Institution« auf (alle Aktivitäten an einem Ort, kaum Privatheit, Abschottung nach außen). Auch liegt eine Korrelation von Missbrauch in der Familie und weiteren Missbräuchen in Institutionen nahe.

Aus kirchlicher Sicht besonders spannend war die schonungslose Abrechnung des Ethikers und Systematikers Reiner Anselm (München) mit der evangelischen Theologie und Kirchenpraxis. Er kritisierte die vereinnahmende »soft power«, die in den Begriffen »Vertrauen«, »Konsens« und »Gemeinschaft« liege, soweit sie als Gegenbegriffe zum außerkirchlichen Raum verstanden werden. Außerdem erschwere die Stilisierung des Opfers zum Zentrum christlicher Lebensführung die individuelle Wahrnehmung von Leid. Versöhnung, Vergebung und Rechtfertigung müssten wieder klar auf das Gottesverhältnis, nicht primär auf zwischenmenschliche Relationen bezogen werden. Für diese brauche es eine neue »Ethik der Nähe«, die gerade für diakonisches Arbeiten von eminenter Wichtigkeit sei.

Die Tagungsbeiträge sollen zeitnah veröffentlicht werden.

Dorothee Wüst ist seit 2021 Kirchenpräsidentin der Evangelischen Kirche der Pfalz. Sie ist die Sprecherin der Gruppe der kirchlichen und diakonischen Beauftragten im Beteiligungsforum. Foto: Melanie Hubach

Mitglieder des Beteiligungsforums:
Dorothee Wüst
»Wir halten einander manchmal nur schwer aus«

Dorothee Wüst ist als Kirchenpräsidentin der Evangelischen Kirche der Pfalz eine von drei leitenden Geistlichen im Beteiligungsforum Sexualisierte Gewalt. Seit November 2022 ist sie Sprecherin der Gruppe der kirchlichen und diakonischen Beauftragten.

Was hat Sie zu der Entscheidung bewogen, im Beteiligungsforum mitzuarbeiten?

Als das Beteiligungsforum sich vor gut zwei Jahren konstituierte, wurde ich gefragt, ob ich mir eine Mitarbeit vorstellen könne. Tatsächlich habe ich keine Minute gezögert und es auch keine Minute bereut, weil ich diese Arbeit unendlich wichtig finde. Für mich war Kirche immer eine Heimat, ein Schutzraum. Aber für viel zu viele Menschen war sie es nicht. Das ist ernüchternd und beschämend. Keiner kann rückgängig machen, was geschehen ist. Aber aufrichtig ernst zu nehmen, dass es dieses Unrecht gab und gibt, Verantwortung dafür zu übernehmen und daran mitzuwirken, dass es nicht mehr geschieht, finde ich eigentlich selbstverständlich.

Wie ist die Zusammenarbeit mit den Sprecher*innen der Betroffenenvertretung?

Die Aufgabe der ganzen Betroffenenvertretung im Beteiligungsforum ist die eines kritischen Gegenübers zu Kirche und Diakonie, das sich für die Perspektive und die Rechte betroffener Personen stark macht und machen muss. Insofern diskutieren wir oft hart an der Sache, sind uns nicht immer einig, ringen um Kompromisse, sind auf beiden Seiten nicht immer zufrieden, halten einander manchmal nur schwer aus und mühen uns doch immer wieder um einen konstruktiven Geist – eben nicht um der Institution willen, sondern wegen all derer, denen die Arbeit des Beteiligungsforums zugutekommen soll.

Was ist Ihrer Meinung nach die Rolle des Beteiligungsforums bei der Umsetzung des ForuM-Maßnahmenplans?

Wie bei allen anderen Fragen aus dem Themenbereich »sexualisierte Gewalt« spielt das Beteiligungsforum natürlich auch eine zentrale und nicht übergehbare Rolle bei der Umsetzung des ForuM-Maßnahmenplans. Allerdings wird die Umsetzung keiner Maßnahme gelingen, ohne dass alle anderen mitziehen und mitwirken, die es betrifft. Und es betrifft nun einmal alle – von der Kirchenleitung bis hin zu den ehrenamtlich Mitarbeitenden. Im Beteiligungsforum können die Maßnahmen konkretisiert, Standards formuliert und Gesetzentwürfe entwickelt werden. Das werden wir auch tun. Aber wir müssen auch darauf bauen können, dass das, was dann Maßstab sein soll, im gesamten Raum von Kirche und Diakonie in die Tat umgesetzt wird.

Auf dem Dachboden des Pfarrhauses in Elsdorf wurden Aktenordner voller schockierender Briefe von Kindern und Jugendlichen gefunden, die vor rund 50 Jahren von einer diakonischen Einrichtung in Pflegestellen untergebracht waren. Szenenfoto aus einem NDR-Beitrag
Aus den Landeskirchen
Brisanter Aktenfund

Evangelische Landeskirche von Westfalen: Im Fall des früheren Jugendbetreuers im Kirchenkreis Bielefeld hat die Staatsanwaltschaft Anklage wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen und Besitz jugendpornografischer Schriften erhoben. Der Beschuldigte soll zwischen 2005 und 2011 einen Kreis von bis zu acht Jugendlichen regelmäßig privat eingeladen haben. Bei diesen Treffen soll es zu Grenzüberschreitungen und sexualisierter Gewalt gekommen sein. Der Kirchenkreis Bielefeld hatte nach Bekanntwerden der Vorwürfe 2021 Anzeige gegen den inzwischen gekündigten Mitarbeiter erstattet.

Landeskirche Hannovers: Ein Aktenfund auf dem Dachboden des Pfarrhauses in Elsdorf, Kirchenkreis Bremervörde-Zeven, brachte Briefe mit Schilderungen von Gewalt- und Missbrauchserfahrungen ans Licht. Sie stammen von rund 200 Heimkindern und Jugendlichen, die vor rund 50 Jahren von der diakonischen Pestalozzi-Stiftung in Burgwedel und dem örtlichen Pfarramt an Pflegestellen in Elsdorf – Höfe und Handwerksbetriebe – vermittelt wurden. In rund zehn Prozent der Akten wurden Hinweise auf Gewalterfahrungen gefunden, darunter auch Verdachtsfälle von sexualisierter Gewalt. Einige der Briefe sind an einen – inzwischen verstorbenen – kirchlichen Mitarbeiter gerichtet, der selbst sexualisierter Gewaltübergriffe beschuldigt wird. Superintendent Carsten Stock sagte: »Es erschreckt mich zutiefst, was Kinder und Jugendliche offenbar in der Nachkriegszeit an Gewalt und sexualisierter Gewalt erlitten haben. Dass ein kirchlicher Mitarbeiter von den Vorgängen offenbar Kenntnis hatte und es den Verdacht gibt, dass er selbst sexualisierte Gewalt gegenüber einer jugendlichen Person begangen hat, finde ich furchtbar.«

Die Landeskirche muss einen Pastor trotz Missbrauchsvorwürfen weiter beschäftigen. Der Rechtshof der Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen gab dem Widerspruch des Mannes gegen eine Entscheidung der Landeskirche statt. Die Kirche hatte versucht, seine Ernennung zum Pastor zurückzunehmen. Eine betroffene Person, damals 15 Jahre alt, hatte eine Tat aus dem Bereich der sexualisierten Gewalt geschildert. Der Mann habe sie 2004 bei einer Chorfreizeit in einem Schwimmbecken auf seinen Schoss gezogen,
ihren Bauch berührt und seine Hand an ihren Brustansatz gelegt.
Dann habe er gefragt, ob er ihre Brust berühren dürfe. Zu dem Zeitpunkt war der Mann noch nicht als Pastor bei der Landeskirche, sondern in einer ähnlichen Funktion bei einer diakonischen Einrichtung beschäftigt. Der Vorsitzende Richter, Martin Goos, sagte: »Das Geschehen ist als sexuelle Belästigung zu sehen.« Derartige Handlungen seien aber erst seit 2016 strafbar. Die Rechtslage zum Tatzeitpunkt sei für die Entscheidung des Rechtshofes ausschlaggebend, auch wenn dies aus heutiger Sicht manchen unbefriedigend erscheine. Goos betonte, dass es keine Anhaltspunkte dafür gebe, dass die Aussagen der Zeugin nicht wahr seien. Der Präsident des Landeskirchenamtes, Jens Lehmann, sagte: »Die Rechtsauffassung des Rechtshofes, dass die damaligen Handlungen des Pastors nicht strafrechtlich relevant waren, unterscheidet sich von der Rechtsauffassung, die die Landeskirche vertritt.« Die Verfügung, dass dem Beschuldigten die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen untersagt sei, bleibe bestehen.

Landeskirche in Baden: Erneut werden mögliche Betroffene sexualisierter Gewalt und Zeitzeugen aus den Kirchengemeinden Löffingen und Bickensohl gebeten, sich bei einem dieser Kontakte zu melden. In den beiden Kirchengemeinden im Kirchenbezirk Breisgau-Hochschwarzwald ist von Mitte der 1980er Jahre bis 2012 der verstorbene Kirchenmusiker D. L. als Organist tätig gewesen, dem Fälle von sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen in den 1960er und 1970er Jahren in der Luther-Kirchengemeinde in Düsseldorf vorgeworfen werden. Nach dem ersten Aufruf der badischen Landeskirche im September haben sich eine betroffene Person sowie eine Zeitzeugin gemeldet. 

Landeskirche in Braunschweig: Seit der Präsentation der ForuM-Studie im Januar 2024 haben sich bei der Landeskirche zwölf Betroffene neu gemeldet mit Vorfällen aus den Jahren zwischen 1949 und 1998. Außerdem sind in zwei Fällen aus jüngerer Zeit Vorwürfe von Distanzverletzungen erhoben worden, die zu arbeits- und disziplinarrechtlichen Konsequenzen geführt haben. Fünf der Betroffenen haben sich bis jetzt an die zuständige Anerkennungskommission gewandt und Leistungen bis zu 50.000 Euro erhalten. Bei den Beschuldigten handelt es sich um mittlerweile verstorbene oder betagte Pfarrer und Kirchenmusiker aus den Regionen Königslutter, Salzgitter und Harz.

Die DEKT-Präventionsbeauftragte Lea Dreymann im Garten des Kirchentagsbüros in Fulda. Foto: Dominik Rossbach
Praxisbeispiel: Kirchentag
»Schutzkonzepte sind niemals fertig«

Lea Dreymann ist seit Juli Präventionsmanagerin gegen sexualisierte Gewalt beim Deutschen Evangelischen Kirchentag. Wir sprachen mit ihr über die Vorbereitungen für Hannover 2025.

Der Kirchentag ist eine der größten Veranstaltungen in Deutschland. Was musstet Ihr im Schutzkonzept alles berücksichtigen?

Der Kirchentag ist geprägt von seiner Vielfalt – eine seiner größten Stärken. Doch genau diese Vielfalt stellt uns in der Präventionsarbeit vor große Herausforderungen: Ehrenamtliche Helfende, hauptamtliche Mitarbeitende, Mitwirkende, Teilnehmende und viele weitere leisten wertvolle Beiträge, ohne die der Kirchentag nicht möglich wäre. Für all diese Gruppen gilt ein und dasselbe umfassende Schutz- und Fürsorgekonzept. Was theoretisch einfach klingt, wird in der praktischen Umsetzung schnell komplex.

Ein gutes Beispiel dafür ist die Gruppe der Helfenden: Viele reisen seit Jahren in festen Gruppen an, wie etwa Pfadfinder*innen, die oft schon in Schutzthemen geschult sind und teilweise über eigene Präventionskonzepte verfügen. Einzelhelfende, die zum ersten Mal dabei sind, kennen sich dagegen möglicherweise weniger aus. Dies betrifft auch Teilnehmende, Programmverantwortliche und unsere hauptamtlichen Mitarbeitenden.

Für den Kirchentag bedeutet das, dass wir Menschen mit ganz unterschiedlichen Wissensständen sowie Rollen informieren und sensibilisieren möchte. Wie erreichen wir all diese Personen mit unserem Schutzkonzept? Und wer benötigt welche Form und Tiefe der Schulung? Diese Fragen beschäftigen mich und sind zentral für die Weiterentwicklung unseres Schutzkonzeptes.

Von wem habt Ihr Euch beraten lassen?

In der Erarbeitung unseres Schutz- und Fürsorgekonzeptes hat uns Inmedio begleitet und unterstützt. Inmedio hat sich auf Mediation, systemische Beratung, Organisationsentwicklung und betroffenengerechte Prä- und Intervention spezialisiert. Sie haben zum Beispiel auch den Deutschen Pfadfinderbund, das Bündnis 90/Die Grünen, den Landessportbund Berlin oder die DLRG Jugend beraten. Die Begleitung von ihnen war wahnsinnig wertvoll. Wir arbeiten noch immer eng mit Inmedio zusammen. Sie schulen beispielsweise unsere hauptamtlichen Ansprechpersonen, die innerhalb des Kirchentagkollegiums die Fachpersonen für das Thema sexualisierte Gewalt sind.

Daneben ist vor allem der Austausch mit Kollegen und Kolleginnen (und ehrlicherweise sind es vor allem Kolleginnen) in anderen Präventionsstellen eine große Unterstützung.

Wie lange hat der Prozess gedauert?

Das Schutz- und Fürsorgekonzept entstand erstmalig in der heutigen Form für den Ökumenischen Kirchentag in Frankfurt in 2021, der damals rein digital stattfand. Seitdem arbeiten wir kontinuierlich weiter an unserem Konzept. Denn ein Schutzprozess ist kein einmaliges Ereignis, sondern ein kontinuierlicher und dynamischer Ansatz. Er erfordert regelmäßige Überprüfung, Anpassung und Schulung aller Beteiligten, um sicherzustellen, dass er effektiv bleibt und sich an veränderte Bedingungen anpassen kann. Dementsprechend dauert er auch weiterhin an.

Was können Gemeinden aus Eurem Schutzkonzept für eigene Veranstaltungen lernen?

Natürlich funktionieren Kirchentag und Gemeinden in vielerlei Hinsicht sehr unterschiedlich. Der Kirchentag ist eine Großveranstaltung, die alle zwei Jahre in einer anderen Stadt stattfindet – mit häufig wechselndem haupt- und ehrenamtlichen Personal, räumlichen Gegebenheiten und Teilnehmenden. Im Gemeindeleben gibt es dagegen vergleichsweise mehr Kontinuität und Stabilität. Beides birgt auf ganz unterschiedliche Arten Risiken, die uns bewusst sein müssen. Und natürlich ist ein Kirchentag bedeutend größer und komplexer als ein normales Gemeindefest.

Aber: Im Grunde funktioniert das, was unser Schutzkonzept ausmacht, im Großen wie im Kleinen. Wichtig ist, dass alle Menschen im Kontext der jeweiligen Veranstaltung mitgedacht werden. Nicht nur die Teilnehmenden, sondern auch die eigenen Mitarbeitenden, die ehrenamtlich Helfenden oder auch das Personal von externen Veranstaltungsorten. Sie alle haben unterschiedliche Bedürfnisse und Vorkenntnisse. Aber am Ende sollte jede und jeder von ihnen im Idealfall vom Schutzkonzept und dem Thema sexualisierte Gewalt gehört haben. Anlaufstellen und Meldeverfahren müssen klar etabliert und kommuniziert sein. Niemand kann für absolute Sicherheit garantieren, aber wenn sich Menschen melden, denen etwas passiert ist oder die etwas beobachtet haben, sollte schnell reagiert werden. Im Sinne der Betroffenen sollte allen klar sein, wer was wann zu tun hat. Dabei hilft gute Vorbereitung. Und – dieses Thema kennen alle, die in diesem Bereich arbeiten, nur zu gut – es ist eine Ressourcenfrage. Gute Prävention braucht Zeit, Raum und letztlich Geld.  

Das Thema sexualisierte Gewalt steckt noch immer – obwohl wir es besser wissen – in der Tabuzone. Deswegen ist der hohe Schulungsbedarf, den ich am Anfang erwähnt habe, so wichtig. Denn so wird über das Thema gesprochen. Das trifft übrigens für diejenigen, die Präventionsarbeit leisten, ebenso zu wie für alle anderen Menschen auf einer Veranstaltung. Schutzkonzepte sind niemals fertig. Und auch ich gehe davon aus, dass wir aus dem Kirchentag in Hannover viele Dinge mitnehmen werden – Dinge, die gut funktioniert haben, und Dinge, die wir 2027 in Düsseldorf anders machen werden.

Zu Gast auf der EWDE-Konferenz war auch der BeFo-Sprecher Detlev Zander (2. v. l.), hier mit der EKD-Bevollmächtigten Anne Gideon, Diakonie-Vorständin Maria Loheide und Diakonie-Präsident Rüdiger Schuch (v. l.). Foto: Stephan Röger

Schutzkonzept für die Diakonie

Einstimmige Verabschiedung im obersten Entscheidungsgremium der EWDE
Prävention und Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt sind künftig verbindlicher als bislang in der Diakonie verankert: Die Delegierten der Konferenz Diakonie und Entwicklung, dem höchsten Gremium des Evangelischen Werks für Diakonie und Entwicklung (EWDE), beschlossen im Oktober ohne Gegenstimmen die Rahmenbestimmung zum »Schutz vor und Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt«. Sie wurde »in einem intensiven Prozess zusammen mit unseren Mitgliedern und unter Einbeziehung von Betroffenen erarbeitet«, sagte die Diakonie-Vorständin Sozialpolitik, Maria Loheide. »Die Regelungen unterstützen eine konsequente und einheitliche Umsetzung von Strukturen und Maßnahmen zur Prävention, Intervention, Aufarbeitung und Anerkennung sexualisierter Gewalt in der Diakonie. Das ist ein wichtiger Schritt und trägt zu einer stärkeren Verankerung des Themas und einem nachhaltigen Schutz vor sexualisierter Gewalt in der Diakonie bei.«

Die Rahmenbestimmung für die Landesverbände und ihre Rechtsträger tritt am 1. Januar 2025 in Kraft.

Screenshot der interaktiven Weltkarte, die zu rund 150 internationalen Studien führt

Medientipp

Internationale Übersicht der Studien zur sexualisierten Gewalt
Auch wenn die interaktive Weltkarte noch viele weiße Flecken hat, ist diese Übersicht einmalig: Die von einem Forscherinnenteam der La-Trobe-Universität Melbourne kuratierte Website »The Age of Inquiry« (»Das Zeitalter der Forschung«) listet wissenschaftliche Untersuchungen zur sexualisierten Gewalt in Institutionen aus 20 Ländern auf und verlinkt auf die entsprechenden PDF-Dokumente. Rund 150 Studien seit 1990 aus aller Welt sind über diese Seite verfügbar.

Haben Sie Fragen zum Aufarbeitungsprozess in den evangelischen Kirchen oder der Diakonie, suchen Sie Informationen? Wir freuen uns über Ihre Mail mit Anregungen, Anfragen und Kritik an praevention@ekd.de. Wenn Sie das ForuM-Bulletin interessant fanden, können Sie es über diesen Link weiterempfehlen. Das nächste ForuM-Bulletin erscheint im Februar 2025.


Bis dahin, herzlich
Ihr ForuM-Bulletin-Team
Sophia Groth, Frank Hofmann