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Ausgabe März/April 2024
ForuM-Bulletin #1
Drei gebundene Ausgaben der ForuM-Studie, die frei im Netz zum Download zur Verfügung steht. Foto: epd
Liebe Leserin, lieber Leser,

vor sieben Wochen, am 25. Januar, wurde in Hannover die ForuM-Studie vorgestellt, der Abschlussbericht eines unabhängigen Forschungsverbundes zu Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt in der Evangelischen Kirche und der Diakonie in Deutschland. Seitdem haben ungezählte Medien darüber berichtet, Ergebnisse eingeordnet, Reaktionen gesammelt, kommentiert, Interviews geführt.

Neben dieser öffentlich sichtbaren Seite gab es etliche Aktivitäten im Hintergrund. Vieles davon ist dem 2022 gegründeten Beteiligungsforum zu verdanken, in dem von sexualisierter Gewalt betroffene Menschen und Beauftragte aus Kirche und Diakonie zusammenarbeiten. Das Nahziel des Beteiligungsforums ist, der Synode im November einen Katalog von Maßnahmen zur Aufarbeitung und Prävention vorzulegen. Dieses Bulletin unterrichtet Sie im Abstand von etwa sechs Wochen über den aktuellen Stand der Beratungen, über Kontroversen und Ideen sowie über Initiativen in den Landeskirchen.

Triggerwarnung: In diesem Newsletter geht es um die Aufarbeitung sexualisierter Gewalthandlungen. Einige Schilderungen können auf betroffene Menschen belastend wirken. Informationen zu Hilfsangeboten finden Sie hier.
Sitzung der Kirchenkonferenz am vergangenen Donnerstag mit der amtierenden Ratsvorsitzenden, Bischöfin Kirsten Fehrs, Prof. Wazlawik und Mitgliedern des Beteiligungsforums. Foto: Annika Lukas
Umgang mit der ForuM-Studie
46 Vorschläge in der Bewertung

Mitte Februar ordnete zunächst das Beteiligungsforum die Empfehlungen der ForuM-Studie für sich. Auf dieser Grundlage befassten sich Anfang März die Kirchenkonferenz und der Rat der EKD mit den Empfehlungen. Das Ziel sind beschlussfähige Maßnahmen zur Synode im November.

Besser hätte der Name des Tagungsraums im Mercure-Hotel Hannover-City kaum zu der Runde passen können, die sich hier genau 25 Tage nach der Vorstellung der ForuM-Studie versammelte. Döhren ist einer der spannendsten, weil widersprüchlichsten Stadtbezirke Hannovers mit Gründerzeit-Häusern im historischen Zentrum und dem Messegelände im Osten, mit pittoresken Auen an der Leine und Gewerbegebieten. Die Gegensätze im Tagungsraum »Döhren« waren nicht so leicht greifbar, sie entstanden durch die Hintergründe der Teilnehmenden. Auf der einen Seite acht Menschen, die in der evangelischen Kirche oder diakonischen Einrichtungen sexualisierte Gewalt erfahren mussten, auf der anderen Seite Vertreter*innen eben jener Organisationen. Das in dieser Art einmalige »Beteiligungsforum Sexualisierte Gewalt in der EKD« hat die Aufgabe, alle kirchenpolitischen Entscheidungen zum Umgang mit sexualisierter Gewalt vorzubereiten.

Auf der ersten Sitzung nach Präsentation der ForuM-Studie zeigte sich, wie engagiert, produktiv und zielorientiert dieses heterogene Gremium seiner Arbeit nachgeht. 46 Empfehlungen hatten das Forscherteam der evangelischen Kirche und der Diakonie mit auf den Weg gegeben – diese wurden in vier Arbeitsgruppen durchdacht, konkretisiert und priorisiert. Die vier Themenbereiche – Struktur- Kultur- und Kommunikationswandel, Prävention, Intervention und Aufarbeitung – werden nun im weiteren Arbeitsprozess wieder miteinander zu einem Maßnahmenkatalog verknüpft, der im November der EKD-Synode in Würzburg zur Beratung vorgelegt wird. Im Vordergrund steht bei diesem Prozess, dass »Kirche und Diakonie möglichst zügig in die Umsetzung gehen können«, sagt Nancy Janz, Sprecherin der Betroffenenvertretung. »Betroffene müssen jetzt eine Verbesserung ihrer Lage feststellen können und nicht erst in fünf Jahren.«

Zu Beginn des zweiten Sitzungstages stellte Martin Wazlawik, Professor für soziale Arbeit an der Hochschule Hannover und Koordinator der ForuM-Studie, dem Beteiligungsforum seine Sicht auf die Empfehlungen vor. Die Mitglieder nutzten die Gelegenheit, im direkten Gespräch ein besseres Verständnis für einzelne Empfehlungen und ihrer Hintergründe zu bekommen. Es gab auch einen offenen Austausch zum Prozess der Veröffentlichung der Studie. Die Betroffenen bedauerten, dass der qualitative Studienteil von der Aktenlage zunächst in den Hintergrund des öffentlichen Interesses gedrängt wurde.

Gut zwei Wochen später tagte die Kirchenkonferenz der EKD, in der alle 20 Landeskirchen und die Diakonie vertreten sind. Mitglieder des Beteiligungsforums und Wazlawik waren zu Gast und brachten ihre Positionen in die Beratungen ein. Dabei herrschte Einigkeit über die Einsicht: Ein Kulturwandel zu mehr Achtsamkeit ist eine Generationenaufgabe, die sich nicht vollständig in einzelnen Maßnahmen abbilden lässt. Viele der Empfehlungen von ForuM werden aber ganz konkret angegangen. So wurde eine umfangreiche Reform der Gewaltschutzrichtlinie der EKD mit einheitlichen Standards für Präventionsmaßnahmen, -monitoring und Interventionspläne in allen Landeskirchen diskutiert. Dazu würde ein einheitliches System von Ansprech-/Melde- und Beratungsstellen gehören, das auf verschiedenen Ebenen und auch durch externe Berater*innen den betroffenen und meldenden Pesonen zur Verfügung steht. Beraten wurde in der Kirchenkonferenz und im Rat ebenfalls die Notwendigkeit, sich theologisch mit dem Thema sexualisierte Gewalt zu beschäftigen.

Die Einrichtung der neun Unabhängigen Regionalen Aufarbeitungskommissionen (URAK) soll möglichst parallel im März 2025 abgeschlossen sein. Eine große Herausforderung sehen die Kirchenvertreter*innen darin, die zentralen und die föderalen Prozesse aufeinander abzustimmen.

Der Rat der EKD kam einen Tag später mit Mitgliedern des Beteiligungsforums zusammen. Zentrale Einsicht hier: Jeder Fall sei anders, aber trotzdem seien gemeinsame Standards wichtig, um sprach- und handlungsfähig zu sein. »Auch wenn Sie nach passenden Worten noch ringen, Sie müssen über sexualisierte Gewalt sprechen. Sie dürfen nicht schweigen«, gab Nancy Janz, Sprecherin der Betroffenenvertretung, den Ratsmitgliedern auf den Weg.

Kirchenkonferenz und Rat der EKD unterstützen den vom Beteiligungsforum erarbeiteten Pfad zur Diskussion der Studienergebnisse und den Prozess der Ableitung von konkreten Maßnahmen. Über den weiteren Fortgang der Beratungen wird das ForuM-Bulletin berichten. Eine erste Konkretisierung liegt bereits für ein geändertes Disziplinarrecht vor (siehe unten). Unter dem nachfolgenden Link finden Sie die Synodenbeschlüsse von 2023 zur Reform der Anerkennungsleistungen und zum Aufbau der Vernetzungsplattform für Betroffene, »BeNe«.
»Es bleibt viel zu tun. Nur wenn die Landeskirchen und die diakonischen Landesverbände jetzt genügend Geld und Personal einsetzen und sich endlich zu einheitlichen Standards bekennen, können sie den Bedürfnissen betroffener Menschen gerecht werden.«
Detlev Zander,
Sprecher der Betroffenenvertretung
Änderungen im Disziplinarrecht
Mehr Einsicht für Betroffene

Es war im Beteiligungsforum von Anfang an klar, dass die Reform des kirchlichen Disziplinarrechts eine hohe Priorität hat. In der AG Disziplinarverfahren arbeiten Betroffenenvertreter*innen sowie Fachleute für Disziplinarrecht und den Schutz vor sexualisierter Gewalt zusammen. Die geplante Reform ist eine deutliche Verbesserung, aber kann nicht allen Bedarfen der Betroffenenvertretung gerecht werden. »Wir mussten feststellen, dass das Disziplinarrecht als Rechtsgrundlage nicht die Möglichkeiten hergibt, die wir uns gewünscht hätten, aber wir haben alles rausgeholt was geht«, sagte Betroffenenvertreter Matthias Schwarz.

Die vorgesehenen Änderungen erlauben betroffenen Personen, die in einem Verfahren als Zeug*innen fungieren, mehr Unterstützung durch selbst gewählte Begleiter*innen. Außerdem soll die Akteneinsicht vereinfacht und allgemein besser über das Verfahren informiert werden. Damit wird auch einer Empfehlung der Aufarbeitungsstudie ForuM entsprochen, nach der Disziplinarverfahren im Hinblick auf das Verfahren, die Beteiligung und die Rechtsstellung betroffener Personen geändert werden sollten.

Nancy Janz kämpft um eine bessere Kirche. Das ist »herausfordernd, arbeitsintensiv und oft belastend«. Foto: Heike Lyding/epd
Mitglieder im Beteiligungsforum 1: Nancy Janz 
»Mich zieht es immer wieder zurück«
Nancy Janz ist in der Magdeburger Börde geboren und aufgewachsen, erlebte sexualisierte Gewalt in der Familie und in der kirchlichen Jugendarbeit. Heute lebt sie in Bremen, leitet die Fachstelle Inklusion der dortigen Landeskirche und betreibt als Heilpraktikerin für Psychotherapie eine eigene Praxis.

Was bewegt Sie, an einer besseren Kirche zu arbeiten, obwohl Sie dort Missbrauch und Ignoranz erfahren haben?

Janz: Für mich war Kirche lange Zeit ein Ort, an dem ich einfach sein konnte, angenommen wie ich bin. Kirche war für mich die Möglichkeit, aus meinem gewalttätigen Elternhaus und der Übergriffigkeit zu fliehen. Wenn ich Kirche, die Gemeinschaft und einzelne wegbegleitende Personen nicht gehabt hätte, wäre ich sehr einsam und verloren gewesen. Deshalb kann ich der Gemeinschaft nicht den Rücken kehren, ich habe es oft versucht, doch immer wieder zieht es mich in meiner Suche nach meiner Spiritualität, meinem Glauben, meiner Beziehung zu Gott zurück in die Kirche. Es gab einzelne Menschen in dieser Kirche, die mir geschadet haben, Strukturen, die desaströs waren, zu wenig Verstehen und Verständnis. An all dem kann etwas getan, etwas verbessert werden und darum setze ich mich im Beteiligungsforum ein Für mich ist es nicht hoffnungslos, genauso wenig wie ich es als nicht hoffnungslos erlebe, meinen Glauben, meine eigene Spiritualität zu suchen und vielleicht manchmal eine göttliche Begegnung zu erleben.

Wie empfinden Sie die Arbeit im Beteiligungsforum? Was glückt, was könnte besser werden?

Die Arbeit im Beteiligungsforum ist herausfordernd, arbeitsintensiv und oft belastend, dennoch erlebe ich eine Wirkkraft dieses Beteiligungsforums, die mich stärkt und Mut macht weiterzugehen. Es gibt kein vergleichbares Beteiligungsmodell, die Mitwirkung auf allen Ebenen, die wir Betroffenenvertreter*innen haben, ist enorm. Es ist nicht immer leicht, einen Konsens zu finden, doch wir alle, sei es die kirchlichen Beauftragten oder wir Betroffenenvertreter*innen, ringen um gute Lösungen und Ansätze und finden sie oft auch. Wir haben mit der ForuM-Studie so viel zu tun, dass es wünschenswert wäre, mehr Unterstützung zu haben, Vieles geht nicht schnell genug und das frustriert auch. Als Betroffenenvertreter*innen setzen wir uns dafür ein, dass endlich spürbare Ergebnisse bei den Betroffenen ankommen, doch Vieles lässt sich nicht ad hoc umsetzen.

Gibt es unter den ForuM-Empfehlungen eine, die Ihnen besonders am Herzen liegt?

Die Empfehlung, die wohl für mich am dringlichsten und dennoch am schwierigsten und langwierigsten umzusetzen ist, ist der Kultur- und Haltungswandel. Wenn wir uns alle in der Verantwortung sehen, sprach- und handlungsfähig zu werden, genau hinzuschauen, dann ist das unsere stärkste Waffe gegen sexualisierte Gewalt. Ein aufmerksames System oder eben eine Gemeinschaft können schützen und weniger Raum für Täter*innen bieten. Wenn wir sprach- und handlungsfähig sind, können wir anders als bisher in Kontakt gehen, haben weniger Angst und machen vielleicht auch weniger Fehler im Umgang mit betroffenen Personen.

Anschaulich, intuitiv und informativ: eine Doppelseite aus der Nordkirchen-Broschüre »FAQ Prävention sexualisierter Gewalt«
Praxisbeispiel
Die Stabsstelle Prävention der Nordkirche

Für alle Präventions-Fachstellen sind diese Wochen besonders intensiv, voller Anfragen und Gespräche mit betroffenen Personen, mit Mitarbeitenden und Kirchenmitgliedern. Die Nordkirche hat mit zwei Maßnahmen gute Erfahrungen gemacht. Beide wurden angeboten vom Kommunikationswerk, das die interne und externe Öffentlichkeitsarbeit verantwortet, in Kooperation mit der unabhängigen Stabstelle Prävention – Fachstelle gegen sexualisierte Gewalt der Nordkirche.

  • Eine im September 2023 veröffentlichte digitale Broschüre zur Präventions- und Interventionsarbeit der Nordkirche »FAQ Prävention Sexualisierter Gewalt« wurde zur Veröffentlichung der ForuM-Studie erweitert. Zum einen wurden die Eckdaten und der Ansatz der Studie zum besseren Verständnis aufbereitet. Außerdem zeigt eine Zeitleiste die Entwicklung des Umgangs mit sexualisierter Gewalt auf der gesellschaftlichen Ebene und parallel die Maßnahmen der EKD und der Nordkirche. Alle wichtigen Ansprechstellen sind zu finden, begriffliche Definitionen sowie die wichtigsten Antworten zu kirchlichen Maßnahmen gegen sexualisierte Gewalt.

  • Besonders wertgeschätzt und intensiv wahrgenommen wurden außerdem Zoom-Termine zum direkten und persönlichen Austausch über die Studieninhalte. Sie wurden angeboten für Leitende, fachlich Interessierte sowie Mitarbeitende in Präventions- und Öffentlichkeitsarbeit. Es wurden sieben 1,5-stündige Termine vor Erscheinen der Studie und fünf Termine danach angeboten, diese offen für alle Mitarbeitenden der Nordkirche. Hier ging es zunächst um die Frage der Zahlen und Akten, es erfolgte aber auch eine erste inhaltliche Auseinandersetzung mit den evangelischen Spezifika. Perspektivisch gehen die Ergebnisse von ForuM in die Evaluation des Präventionsgesetzes der Nordkirche ein.
Am 25. April veranstaltet die Stabsstelle Prävention der Nordkirche das Fachforum Prävention, eine eintägige Tagung für die Öffentlichkeit in Hamburg (Tagungshaus Georgie in St. Georg, nahe des Hauptbahnhofs). Dies ist verbunden mit einer herzlichen Einladung an alle Fachkolleg*innen und Interessierte. Zentrales Thema ist das Wahrnehmen von sexualisierter Gewalt im Wortsinn: die Schilderungen der betroffenen Menschen für wahr nehmen und Taten annehmen. Für den zentralen Vortrag konnte Professor Jörg Fegert, Ärztlicher Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie am Universitätsklinikum Ulm, gewonnen werden. Die Anmeldung ist ab sofort möglich.
Richter a.D. Wolfgang Rosenbusch und Prof. Dr. Christa Paul stellen in einer Pressekonferenz in Hannover ihre Studie zu Fällen sexualisierter Gewalt in der Kirchengemeinde Oesede vor. In der ersten Reihe: Landesbischof Ralf Meister. Foto: Frank Hofmann
Aufarbeitungskommission zum Fall Oesede »Vertuschung« und »Verschleppung«
Ein zwölfjähriges Mädchen berichtet ihrer Mutter, dass sie der Diakon im Kinderspielkreis beim Verstecken im Dunkeln mehrmals intim berührte. Die Mutter stellt den Pastor der Gemeinde zur Rede. Der beschwichtigt sie, erstmal niemandem davon zu erzählen, weil doch jetzt erstmal eine große Jugendfahrt mit diesem Diakon anstehe.

Das ist nur ein unfassbares Detail aus der Aufarbeitungsstudie über die zahlreichen sexuellen Übergriffe und Gewalttaten, die der inzwischen verstorbene Diakon Siegfried G. zwischen 1973 und 1977 mindestens sieben Mädchen der König-Christus-Gemeinde Oesede (Georgsmarienhütte) antat. Den damals ehren- und hauptamtlichen Verantwortlichen waren die Beschwerden von mindestens vier Betroffenen bekannt. Nichts davon wurde aktenkundig. Eine angemessene Reaktion auf die erste Meldung hätte sechs Betroffenen ein lebensprägendes Schicksal ersparen können. »Die Kinder sind als Opfer nicht wahrgenommen worden", sagt Richter a.D. Wolfgang Rosenbusch, Co-Autor der Studie. »Das ist Vertuschung, anders kann man es nicht nennen.«

Den Aufarbeitungsprozess in Gang brachte »Lisa Meyer«, wie sich eine Betroffene nennt, die auf einer Jugendfreizeit mit zwölf Jahren von Siegfried G. vergewaltigt wurde und sich danach vergeblich an eine Betreuerin wandte. Deren Reaktion: Sie lüge und wenn sie das noch einmal erzähle, werde sie sehr viel Ärger bekommen. Lisa Meyer schwieg bis 2010. Dann wandte sie sich an das Landeskirchenamt, das inzwischen eine Hotline für Betroffene eingerichtet hatte. Dort verwies man auf die Verjährungsfrist und stellte keine weiteren Ermittlungen in der Kirchengemeinde an, obwohl der mutmaßliche Täter und der Pfarrer noch lebten. Eine »Verschleppung« aus »Überforderung«, urteilt Dr. Christa Paul, Professorin für Soziale Arbeit in Hamburg und Co-Autorin der Studie.

Erst als sich Lisa Meyer 2020 erneut an das Landeskirchenamt wendet und mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit geht, kommt die Aufarbeitung ins Rollen. Anfang September beauftragt die Landeskirche eine unabhängige Aufarbeitungskommission, den Fall Oesede und den kirchlichen Umgang damit juristisch und sozialwissenschaftlich untersuchen zu lassen.

Das Ergebnis, eine rund 100-seitige Studie, nahm Landesbischof Ralf Meister in der Pressekonferenz der Kommission Ende Februar entgegen. Er dankte der ebenfalls anwesenden Betroffenen Lisa Meyer dafür, die Aufarbeitung angestoßen zu haben, und versprach, sich in rund 14 Tagen dazu zu äußern. Diese empfand den Dank als »zynisch« und beschwerte sich, dass ein vertraulicher Mailverkehr von ihr ohne ihr Einverständnis von der Landeskirche an die Kommission weitergeleitet wurde. Ihre Stellungnahme finden Sie hier, die Studie, eine Zusammenfassung und die Pressemeldung unter dem untenstehenden Link. Die Pressekonferenz der Landeskirche findet am 15. März in Hannover statt.
»Die ForuM-Studie hat gezeigt, dass die Risiken oft da auszumachen sind, wo Kirche ihre Stärken hat.«
Rainer Kluck,
Leiter der Stabsstelle Prävention in der Nordkirche
Dr. Petra Bahr ist seit 2017 Regionalbischöfin für den Sprengel Hannover und seit 2020 Mitglied des Deutschen Ethikrats.Foto: J. Schulze
Fragen an Bischöfin Petra Bahr
»Theologische Begriffe können böse werden«
Die ForuM-Studie hat strukturelle Faktoren in der evangelischen Kirche ausgemacht, die sexualisierte Gewalt begünstigen, Täter schützen und die Aufarbeitung behindern. Dabei ging es auch um den leichtfertigen Gebrauch theologischer Begriffe wie Vergebung. Sind das aus Ihrer Sicht Anwendungsfehler oder bedarf es hier auch theologischer Korrekturen?

Bahr: Theologische Begriffe können durch die Art und Weise ihres Gebrauch falsch, ja böse werden. Hier braucht es in der Tat eine Aufarbeitung der Sprache und der theologischen Bilder bis in die Liturgie, weil Sprache Wirklichkeit schafft. Eine Betroffene sexualisierter Gewalt, in deren Nähe ich aufgewachsen bin, hat erst jetzt, mit fast 90, erzählt, wie sie in jedem Gottesdienst bei der Vaterunserbitte »und vergib uns unsere Schuld wie auch wir vergeben unseren Schuldigern« bis ins Mark erschüttert wurde, weil sie sich doppelt schuldig fühlte: als die, die sich selbst in eine furchtbare Situation gebracht hatte und als die, die ihrem Vergewaltiger bis heute nicht aus tiefstem Herzen vergeben kann. Vergebung kann man aber nicht verordnen oder gar erwarten. Die Bitte um Vergebung muss sich im übrigen an die richten, denen Gewalt widerfahren ist. Sie meint nicht zuerst die Entlastung der Täter.

Und wie steht es um die Rechtfertigung?

Rechtfertigung der Sünder als Beschreibung des Menschen in seinem heilungsbedürftigen Verhältnis zu Gott  rechtfertigt keine böse Tat. Diese Unterscheidung von Person und Werk im Namen einer zentralen theologischen Einsicht zu kaschieren ist Verdrehung dieser Einsicht.

Der Deutsche Ethikrat (DER) beschäftigt sich mit den »großen Fragen des Lebens«. Wären die Lernerfahrungen aus der Diskussion um sexualisierte Gewalt nicht ein Grund, auch dieses Gremium zu beschäftigen – etwa wenn es um Fragen der Beweisbarkeit oder Verjährung von Übergriffen geht?

Der DER beschäftigt sich mit Themen, bei denen das ethische Urteil allererst gefunden werden muss, etwa bei neuen medizinischen Möglichkeiten oder bei der Einführung von Künstlicher Intelligenz. Es bedarf aber einer ethischen und theologischen Aufarbeitung der systemischen Bedingungen in Institutionen. »Macht« als Thema der Institutionenethik  und nicht nur der Pastoraltheologie im engeren Sinne gehört genau so dazu wie der Umgang mit Vertrauen, Verantwortung in Sorgeverhältnissen etc. Im Bereich der Pflegewissenschaften ist dieses Thema z.B. schon in intensiver Bearbeitung. Da kann man einiges lernen. Meines Erachtens braucht es auch den Blick in die jüngste Kirchengeschichte. Das Thema »Ehe im Pfarrhaus«, überhaupt das Pfarrhaus als Moralanstalt samt seiner hypertrophen Überhöhung hat vermutlich viel damit zu tun, dass sexualisierte Gewalt oft nicht als das bezeichnet wurde, was es war. Dazu gehört meines Erachtens auch das jahrzehntelange Fremdeln mit dem Rechtsstaat. Die Dinge alleine regeln zu wollen, auch im Umgang mit Verbrechen, zeigt sich in dieser Distanz.

Rüdiger Schuch ist seit Anfang des Jahres Präsident der Diakonie Deutschland. Foto: Thomas Meyer/Diakonie
Aufarbeitung in der Diakonie
»Es kann kein Weiter-so geben«

Die Ergebnisse der ForuM-Studie haben auch in der Diakonie Deutschland eine intensive Debatte über das institutionelle Versagen der vergangenen Jahrzehnte ausgelöst. Die Studie zeigt, dass auch dort weggeschaut, vertuscht und bagatellisiert worden ist. Das hat viel Vertrauen gekostet.

Den dringenden Änderungsbedarf zeigen die 46 Empfehlungen der ForuM-Studie auf. Es müssen Weichen anders gestellt und das Thema muss als Leitungsaufgabe neu verankert werden. Denn die betroffenen Menschen haben ein Recht auf Aufarbeitung und Anerkennung. Darum beteiligt sich die Diakonie gemeinsam mit den Landeskirchen am Aufbau von Unabhängigen Regionalen Aufarbeitungskommissionen und steht für faire Anerkennungsleistungen ein. »Nur dadurch können wir Vertrauen zurückgewinnen«, sagt der neue Diakonie-Präsident Rüdiger Schuch.

Im Beteiligungsforum Sexualisierte Gewalt, in der Kirche und Diakonie eng zusammenarbeiten, werden die Empfehlungen der Studie und weitere Maßnahmen derzeit intensiv diskutiert und in Bezug auf die jeweiligen Kontexte reflektiert. Auch in der Konferenz der Diakonischen Werke am 9./10. April in Berlin soll sexualisierte Gewalt der Schwerpunkt sein. Dort wird mit den diakonischen Landesverbänden der Weg für die Neuausrichtung der Diakonie besprochen. Schuch: »Es kann kein Weiter-so geben. Es braucht einen Kulturwandel.«

Schuch hat bei seinem Antrittsbesuch bei der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) im Februar deutlich gemacht, dass bei Aufarbeitung und Prävention keine weitere Zeit verloren gehen darf. Dazu zählt die Implementierung von Schutzkonzepten in allen diakonischen Handlungsfeldern. »Nur so können wir sicherstellen, dass alle Menschen in unseren Einrichtungen sicher sind, sich an uns wenden können und Gewalt verhindert wird.«

Pastorin Birgit Mattausch arbeitet als Autorin für das Hildesheimer Literaturhaus St. Jakobi. Foto: Lenz/himmelhoch.de

Von bleibendem Wert

Medienrückblick
Aus der Fülle der Berichterstattung in den letzten Wochen ragen einige Beiträge heraus. Manche sind bemerkenswert meinungsstark, andere besonders informativ. Auf evangelisch.de schreibt Birgit Mattausch, wie wenig sie ihrer Kirche nach Lektüre der ForuM-Studie noch traut. Die Podcastfolge von »Stachel und Herz« mit dem Betroffenensprecher Detlef Zander gehört zu den informativsten Audio-Beiträgen zum Thema. Nancy Janz war zu Gast in dem »House of One«-Podcast »3 Frauen, 3 Religionen, 1 Thema«. Pfarrerin Theresa Brückner (@theresaliebt) nennt im Sonntagsblatt fünf konkrete Tipps für Kirchenmitglieder, die aus ihrer Handlungsunfähigkeit herauskommen wollen. Der ehemalige Vizepräsident der EKD, Horst Gorski, widmet sich in einem zeitzeichen-Kommentar zwei oft übersehenen Aspekten in der Debatte. Philipp Greifenstein fasst in einem Special seines Online-Magazins Eule weitere lesenswerte eigene und fremde Web- und Audio- Beiträge zum Thema zusammen.

Wenn Sie das ForuM-Bulletin interessant fanden, freuen wir uns über eine Weiterempfehlung, indem Sie diesen Link verschicken. Kritik, Fragen und Anmerkungen sind willkommen an die Mailadresse praevention@ekd.de. Das nächste ForuM-Bulletin erscheint Mitte April.

Bis dahin, herzlich

Ihr Bulletin-Team
Sophia Groth und
Frank Hofmann